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Anrufe, ein Mittel zur Beruhigung

Ich bin unterwegs nach Lemberg. Alle zwei Stunden rufe ich meine Mama in Kyjiw an. Wenn mein Akku leer wird, verliert sie meine Spur.

Daryna Melashenko

Der Zug hält an einer Haltestelle in der Nähe von Ternopil. Wir haben ungefähr die Hälfte der Strecke von Kyjiw nach Lemberg geschafft. Es gibt Freiwillige an der Haltestelle, die kostenlos Babynahrung und Wasser verteilen.

Eine der Mitfahrenden fährt mit ihren zwei Töchtern zusammen, und sie haben vergessen, sich etwas zu trinken mitzunehmen. Sie steigt kurz aus und kommt mit zwei Flaschen in den Händen. Die erste 1,5-Liter-Flasche geht an die Kinder. Die andere Flasche hebt die Frau in die Luft und sagt: "Wer hat noch kein Wasser?"

Meine Nachbarin Larissa sagt sofort: "Bitte hier geben! Wir brauchen's!" Ich schaue hinunter. Neben ihrem Fuß an der Wagenwand steht eine Flasche Mineralwasser, fast voll. Am anderen Ende des Wagens ruft noch jemand: "Wir brauchen auch Wasser! Gibt's noch?"

Ich frage Larissa leise: "Wollen wir vielleicht diese zweite Flasche weitergeben? Ich habe bemerkt, dass Sie noch welches haben. Ich auch, und da drüben gibt's vielleicht Kinder." Sie zuckt zusammen und antwortet sehr schnell: "Ja, nein, schon. Ich habe Mineralwasser, es schmeckt aber nicht gut." Ich will sie daran erinnern, dass es vielen Menschen hier gar nicht um die Geschmacksqualität geht. Aber ich bin viel zu müde, außerdem will ich niemanden belehren. Ich spare mir die Mühe. Es bittet niemand mehr um Wasser. Wahrscheinlich kommen auch die anderen gut aus.

Alle zwei Stunden rufe ich meine Mama an. Gleich danach schalte ich mein Handy immer aus. Wenn mein Akku leer wird, dann kann ich niemanden mehr anrufen und sie verliert meine Spur. Ich finde mich auf jeden Fall zurecht, aber für meine Mama sind meine Anrufe wie kleine Dosen Beruhigungsmittel. Diese Beruhigung möchte ich ihr nicht versagen.

Wir kommen um vier Uhr morgens in Lemberg an. Kurz vor der Ankunft rufe ich meinen Freund an. Dieser Anruf ist genauso wie die ganze Reise sehr seltsam. Erstens bin ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt den Bahnhof verlassen darf. In Lemberg besteht zurzeit eine Ausgangssperre, aber er hat versprochen, dass er mich abholt. Zweitens ist es sehr peinlich, dass ich ihn in diesen ohnehin schwierigen Zeiten aus dem Schlaf reißen muss. Er antwortet und sagt: "Bleib bitte dort, wo es warm ist. Ich bin in einer halben Stunde da." Seine Stimme ist ganz wach. Vielleicht kann auch er wegen des ständigen Sirenengeheuls nicht gut schlafen.

Nach zwölf Stunden Sitzen kann ich dem Wunsch nicht widerstehen, mich ein bisschen zu bewegen. Draußen ist es sehr kalt, ich schätze minus vier Grad Celsius. Direkt neben dem prächtigen Haupteingang - der Lemberger Bahnhof ist ein altösterreichischer Bau im neugotischen Stil - sind mehrere Stände aufgebaut. Das sind Anlaufstellen und Hilfsangebote für neu angekommene Flüchtlinge. Ich blase mir in die eiskalten Hände. Unter einem kleinen Zelt stehen sechs Heizlampen. Das ist genau das, was ich brauche.

Das rötliche Licht lässt mich an Abende denken, die ich vor dem Krieg mit einem Buch im Gästezimmer, das ist das größte Zimmer in unserem Familienhaus, verbracht habe. In diesem Zimmer gibt es einen großen Fernseher. Da hatte ich immer ein Kaminvideo auf YouTube laufen, um in einer gemütlichen Atmosphäre in die Bücherwelt einzutauchen. Vor meiner Abreise versuchte ich noch einmal, mein übliches Leseritual zu wiederholen. Das Kaminlicht ließ mich aber an Explosionen und Brandbilder denken. Alles ist jetzt anders. Selbst meine Farbenwahrnehmung wurde von den Ereignissen der vergangenen zwei Wochen geprägt.

Außer den Ständen und Zelten gibt es auf dem Bahnhof ein paar Busse. Es sind kostenlose Busse nach Warschau. Die Freiwilligen daneben stehen in einer kleinen Runde und besprechen irgendwelche administrativen Kleinigkeiten. Ich spitze meine Ohren: Es werden mindestens drei Sprachen gesprochen.

Trotz der Kälte, der offensichtlichen Müdigkeit der Sprechenden und eventueller sprachlicher Hürden können sie sich mühelos verständigen.