Mein Freund und ich machen einen Spaziergang in den Waldpark. Im hellgrünen Frühlingsgras scheinen hier und dort wild wachsende Narzissen durch. Die Narzisse ist eine meiner Lieblingsblumen, und es tut mir oft leid, dass die narzisstischen Störungen ihren Namen von ihr erhielten.
Wir sprechen über Narzissmus. Menschen mit narzisstischen Störungen sind oft attraktive, bewundernswerte Persönlichkeiten, die aber auch abscheuliche Eigenschaften aufweisen.
Der russische Staat kommt uns beiden plötzlich wie ein Narzisst vor. Erstens pflegt er die Ideen über eigene Großartigkeit. Zweitens wehrt er sich mit vermeintlicher Größe vor einer erbärmlichen Realität: Jenseits der Statistik leben viele Russen prekär. Drittens braucht er Bewunderung, um zu existieren. Die Bewunderung erzielt er durch Propaganda. Wenn die Bewunderung nicht funktioniert, wird sofort zu Drohung und dann zu Gewalt gegriffen. So bringt er den Menschen gelernte Hilfslosigkeit bei. Mitmachen oder fliehen: Alles andere setzt einen unter Gefahr. Viertens mangelt es ihm an Einfühlungsvermögen, was durch die Kriegsgrausamkeiten offensichtlich geworden ist.
Im Idealfall kann man sich von einem Narzissten distanzieren. Im Falle Russlands funktioniert das leider gar nicht. In unserem Fall geht anderes: dem Narzissten klarmachen, dass es sich nicht lohnt, uns anzugreifen. Die Sprache der Diplomatie scheitert offensichtlich daran. Die Sprache der Waffen funktioniert halbwegs, kostet aber das Teuerste: Menschenleben.
Daryna Melashenko ist 26 Jahre alt und ist von Bojarka bei Kiew nach Lemberg geflohen.