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1938 - Ein gutes Nussjahr

Alexander Purger


Historische Ereignisse offenbaren oft erst aus der Distanz ihre wahre Bedeutung. Als Adolf Hitler im Jänner 1933 Reichskanzler wurde, wurde das in der deutschen Wochenschau erst als sechste Nachricht gebracht - nach einer Pferdeschau und den Sportnachrichten.

Als sich Hitler fünf Jahre später, im März 1938, mit dem "Anschluss" Österreichs anschickte, den Zweiten Weltkrieg vorzubereiten, erschien eine Zeitung in der benachbarten Schweiz mit der später berühmt gewordenen Schlagzeile: "1938 - Ein gutes Nussjahr".

Ein anderes Beispiel für die selektive Wahrnehmung geschichtlicher Ereignisse ist ein kleines Büchlein, das sich vielleicht noch in manchen Antiquariaten findet. Es heißt "Erlebnisse eines Wiener Vogelfreundes" (oder so ähnlich) und enthält Geschichten eines Hobbyornithologen aus Wien.

In einem Kapitel schildert er, wie er eines Frühjahrs in der Wiener Lobau das Nest einer Beutelmeise aufspürte. Diese Nester sind kunstvoll gewebte Beutel aus Gräsern und Samenwolle, die der Vogel an einen Ast hängt, um darin zu brüten. Sie sind recht selten, sodass der Vogelfreund ganz aus dem Häuschen war, als er das Nest eines Sonntags entdeckte.

Im Laufe der folgenden Woche fuhr er von Wien täglich in die Lobau hinaus, weil er fürchtete, dass irgendjemand den Beutel herunterreißen könnte. Doch es ging alles gut und am Sonntag darauf konnte er bereits die geschlüpften Jungvögel beobachten.

Das Kuriose daran ist, das der Ornithologe in dem Buch das Datum seines Beutelmeisen-Erlebnisses notiert: 6. bis 13. März 1938. Das heißt, während der dramatischen Woche des "Anschlusses" hatte ein Wiener nichts anderes im Kopf als eine Beutelmeise und ihre Jungen. - Eine befremdliche, aber irgendwie auch rührende Vorstellung.

Was während der Lobauer Beutelmeisen-Brut in der Wiener Innenstadt passierte, ist bekannt. Ein Detail ist besonders dramatisch: Am 6. März 1938 beschloss die österreichische Regierung unter Kanzler Schuschnigg für
13. März die Abhaltung einer Volksabstimmung, um den drohenden "Anschluss" abzuwehren. Umfragen ergaben damals mindestens eine 60-Prozent-Mehrheit für ein freies Österreich.

Um Hitler, der eine solche Abstimmung fürchten musste, zu überraschen, sollte die Volksabstimmung erst am
9. März bekannt gegeben werden.
Doch eine Sekretärin verriet den Plan an einen NS-Agenten. So wusste Hitler schon am 7. März Bescheid und reagierte sofort mit dem Einmarsch. Am 13. März, als Schuschniggs Volksabstimmung stattfinden sollte, waren die Deutschen bereits in Wien. Und die Beutelmeisen in der Lobau geschlüpft.