Wenn wir von etwas träumen, dann sind es Politiker, die immer die Wahrheit sagen und nichts als die Wahrheit. So ein Politiker bekäme im Wahlkampf die Frage gestellt, ob er ausschließen könne, dass nach der Wahl die Steuern erhöht werden, und er würde antworten: Nein, das kann ich nicht ausschließen, denn kein Mensch weiß, was in den kommenden fünf Jahren passieren wird, und außerdem erhöht sich die Steuerlast ja ganz automatisch durch die kalte Progression. Punkt. Das wäre die reine Wahrheit.
Aber was würde dann geschehen? Die Medien würden berichten: "Politiker kündigt Steuererhöhungen an." In den Umfragen würde er den dramatischsten Absturz seit Phaethon erleben. Kommentatoren würden fragen, ob man einem solchen Tollpatsch wirklich die Führung des Landes anvertrauen könne. Der politische Gegner würde aus Dankbarkeit in der Kirche bzw. im Nudelsieb Kerzen anzünden. Die eigene Partei würde sich mit doppelter Lichtgeschwindigkeit von den Aussagen distanzieren. Und schließlich würde der Betreffende noch vor der Wahl wegen parteischädigenden Verhaltens aus dem Verkehr gezogen. Und das alles nur, weil er die Wahrheit gesagt hat.
Dass diejenigen, die sich besonders über seine Aussagen ereifert haben, nach der Wahl natürlich sofort die Steuern erhöhen, sei am Rande erwähnt. In der Naturwissenschaft würde man jedenfalls von einem Selektionsdruck in Richtung Wahrheitsverschweigung sprechen. Das ist ein bisschen so wie mit dem Hals der Giraffe. Die Giraffe lässt sich zwar nicht willentlich einen langen Hals wachsen, damit sie zum Laub in den Baumkronen kommt. Aber wenn der lange Hals schon einmal da ist und sich als nützlich erweist, wird er eben beibehalten.
Womit sich im konkreten Fall die Frage nach Ursache und Wirkung stellt. War zuerst die Flunkerei der Politiker da oder die Sehnsucht der Wähler, angeflunkert zu werden? Eine Antwort ist schwer zu finden, wie die Sache mit dem Ohr zeigt.
Bei den Insassen von Irrenhäusern wurden im 19. Jahrhundert immer wieder Blutergüsse an den Ohrmuscheln und Deformationen des Ohrknorpels diagnostiziert. Die Befunde waren derart häufig, dass kaputte Ohren in der Psychiatrie bald als diagnostisches Merkmal für Blödsinn und Geistesschwäche angesehen wurden. Erst Jahrzehnte später kam ein Psychiater darauf, dass die Ohrverletzungen von den Prügeln der Irrenwärter herrührten. Er hatte in einer Ausstellung die antiken Skulpturen griechischer Faustkämpfer gesehen, die genau die gleichen zerquetschten Ohren aufwiesen.
Eine Geschichte, die einiges über die Schlitzohr-Bildung in der Politik aussagt, oder?