Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt! - Kein Wunder, dass in einer Stadt, in der Beethoven diese Zeilen vertonte, ein Kuss und seine Folgen weltweite Aufregung verursachen. Also, weltweit ist vielleicht etwas übertrieben. Sagen wir: prückelweit.
Das Café Prückel, aus dem die küssenden Damen hinausflogen, war früher dafür bekannt, dass die Ober besonders laut redeten, damit sie von den Gästen, die im Schnitt so alt waren wie Beethoven, auch verstanden wurden. "HABEN SCHON GEWÄHLT?"
Möglicherweise hatte ein Ober nun einen Rückfall in diese vergangenen Zeiten, woraufhin die beiden jungen Damen, um die sich seit Tagen die Wiener Kuss-Welt dreht, erschraken. Da haben sie sich ängstlich aneinandergekuschelt, ihre Hände fanden sich, ihre Lippen - ja, und dann war es geschehen. Das Ergebnis: eine Mörder-Aufregung! Für ehemalige Prückel-Besucher: MÖRDER-AUFREGUNG!
Um die Debatte wieder in ruhigere Bahnen zu lenken, sei hier zur Versachlichung angeführt, was die hohe Wissenschaft zum Thema Kuss beizusteuern hat. Der große Sigmund Freud zum Beispiel soll noch in seiner Verlobungszeit den Kuss für einen perversen Akt gehalten haben, der in abartiger Weise die geschlechtliche Vereinigung nachstelle.
So gesehen haben die Prückel-Betreiber, die die Damen nach dem Kuss des Lokals verwiesen, tadellos gehandelt. Sie haben sich als Anhänger Sigmund Freuds zu erkennen gegeben, was politisch absolut korrekt ist. Und ein geschlechtlicher Akt hat in einem Kaffeehaus ja wirklich nichts zu suchen.
Die Verhaltensforschung wiederum sieht das Küssen im Füttern verwurzelt und erinnert an das "Kussfüttern" zwischen Mutter und Säugling, das wiederum im Schnäbeln der Vögel verwurzelt sei. Möglicherweise haben sich die beiden Mädchen im Prückel also gar nicht geküsst, sondern bloß den Millirahmstrudel mit Vanillesauce geteilt.
Die Geschichte sei zu guter Letzt auch noch konsultiert. Sie enttarnt den Kuss als Strafe bzw. Demutsgeste. Gaspar de Guzmán, Herzog von Olivares, soll als Minister und Erzieher des spanischen Königs Philipp IV. äußerst betrübt gewesen sein, wenn es zwischen ihm und seinem Herrn zu Spannungen kam. In diesem Fall betrat Guzmán das königliche Schlafgemach, küsste demonstrativ den Nachttopf seines Herrn und alles war wieder gut.
Anders in Burgund. Dort sah ein frühmittelalterliches Gesetz vor, dass ein Mann, der einen Jagdhund stahl, dem Hund zur Strafe in aller Öffentlichkeit das Hinterteil küssen musste. Also wirklich! Dagegen ist ja ein Kaffeehausverweis geradezu ein humaner Strafvollzug. Quasi Mundfessel.