Der frühere deutsche Bundespräsident Roman Herzog bemerkte einmal, dass öffentliche Diskussionen immer nach dem gleichen Ritual ablaufen. Er gliederte es in neun Schritte. 1. Ein Thema taucht auf. 2. Ein Vorschlag dazu. 3. Kollektive Empörung. 4. Parteien beziehen Stellung. 5. Wirrwarr an Alternativvorschlägen und Aktionismen (Umfragen, Unterschriftenaktionen). 6. Verunsicherung der Bürger. 7. Appelle zur Besonnenheit. 8. Vertagung des Problems. 9. Das nächste Thema.
Die Richtigkeit der Herzog'schen Ritualkunde lässt sich gerade schön beobachten. Reflexartig hat die heimische Politik die Terroranschläge in Paris zum Anlass für eine Sicherheitsdebatte genommen. Die Innenministerin drängt auf eine "Sicherheitsoffensive" und verlangt ein Sonderbudget für die Aufrüstung der Exekutive in dreistelliger Millionenhöhe sowie eine Ausweitung der Telefonüberwachung. Die Grünen sind empört. Umfragen geben der Ministerin allerdings recht. Bald wird irgendwer zur Besonnenheit mahnen. Und in spätestens drei Wochen wendet sich Österreich dem nächsten Thema zu.
Die Unseriosität dieser rein anlassbezogenen Politik lässt sich an einem kleinen Gedankenexperiment ablesen. Angenommen, die islamistischen Terroristen hätten in Paris nicht Menschen ermordet, sondern mit Bombenanschlägen oder Cyberattacken das Stromnetz der französischen Hauptstadt zusammenbrechen lassen. Die Debatte in Österreich wäre dann ganz anders abgelaufen. Denn solche Stromausfälle ("Blackouts") sind seit Jahren der Albtraum sämtlicher Krisenstäbe der Welt. Eine Großstadt in absoluter Dunkelheit und ohne Strom bedeutet das Chaos. Nichts mehr funktioniert. Der Staat ist extrem gefordert. Seine einzige Handlungsreserve ist die Armee, die dann für Ruhe und Ordnung sorgen muss. Wäre dieses Szenario in Paris eingetreten, würde Österreich jetzt gerade über eine drastische Aufstockung der Miliz, die Anhebung des Wehrbudgets und eine Neufassung des Militärbefugnisgesetzes diskutieren.
Da sich die Islamisten jedoch diesmal für ein anderes Szenario entschieden haben, debattieren wir eben etwas anderes. Das heißt, unsere Politik lässt sich von irgendwelchen Terroristen da- oder dorthin treiben wie ein Blatt im Wind. Eine verantwortliche Sicherheitspolitik sieht anders aus. Sie schaut voraus, nicht zurück. Sie orientiert sich daran, was passieren könnte, nicht daran, was schon passiert ist.
Generalstäblern wird nachgesagt, dass sie nie für den nächsten, sondern immer für den letzten Krieg rüsten. Genau so läuft die sicherheitspolitische Debatte ab. Eine verantwortliche Regierung hätte schon lang vor den Anschlägen von Paris (die schließlich nicht aus heiterem Himmel kamen) über eine "Sicherheitsoffensive" für die Exekutive diskutiert. Und sie hätte gleichzeitig über einen ernsthaften Wiederaufbau der Miliz beraten, um für den Fall eines "Blackout" gewappnet zu sein. So aber wird Österreich erst dann darüber nachzudenken beginnen, wenn irgendwo tatsächlich die Lichter ausgegangen sind.
Eine verantwortliche Sicherheitspolitik würde auch nicht dulden, dass Innen- und Verteidigungsministerium gegeneinander statt miteinander arbeiten. Die Animositäten zwischen den Spitzenbeamten beider Ressorts sind legendär, aber nicht hinnehmbar. Die aktuelle Situation würde den Schildbürgern alle Ehre machen: Das Verteidigungsministerium verfügt über neun Black-Hawk-Hubschrauber, die jedoch bald nicht mehr fliegen können, wenn das chronisch unterfinanzierte Bundesheer bis dahin nicht Geld für die werkseitig vorgeschriebene Modernisierung auftreiben kann.
Gleichzeitig hat das Innenministerium momentan gute Chancen, neue Hubschrauber für Anti-Terror-Einsätze kaufen zu können. (Ein Plan übrigens, den das Innenressort schon nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 verfolgt hatte, der damals aber - Herzog'sche Ritualkunde! - nach wenigen Wochen versandet war.) Wäre es nicht klüger, Innen- und Verteidigungsressort würden die vorhandenen Hubschrauber gemeinsam nutzen?
Kuriosum am Rande: Das Bundesheer hat die Black-Hawk-Hubschrauber im Jahr 2002 nur deswegen bekommen, weil 1999 das Lawinenunglück von Galtür stattgefunden hatte und Österreich damals die US Army um Hilfe beim Ausfliegen der eingeschlossenen Touristen bitten musste. Hätte es im Winter 1999 nicht so viel geschneit, hätten wir heute überhaupt keine modernen Hubschrauber. Sicherheitspolitik auf Österreichisch.