Die lieben Wienerinnen und Wiener waren unlängst zu einer weitreichenden Entscheidung aufgerufen. Sie durften darüber abstimmen, welche Farbe die nächste U-Bahn-Linie tragen soll - Rosa oder Türkis?
Angesichts dieses direktdemokratischen Hochamts fällt es kaum ins Gewicht, dass die Bürger über geringfügig wichtigere Fragen niemals abstimmen dürfen. Etwa über die Zusammensetzung der neuen EU-Kommission, über die Geld- und Schuldenpolitik in Europa, über die Höhe der Steuerbelastung und dergleichen Kleinigkeiten mehr.
Und wenn sie einmal abstimmen dürfen, wird ihr Wille von der Politik eiskalt lächelnd in den Wind geschlagen. Man denke nur an das klare Votum der Österreicher für eine funktionierende Landesverteidigung auf Basis der allgemeinen Wehrpflicht.
Angesichts dieser Umstände (und angesichts der - egal wie viel sie verliert - immerdar weiter regierenden Großen Koalition) drängt sich zunehmend die Frage auf, ob unser demokratisches System eigentlich noch funktioniert oder bloß noch formal existiert.
Der berühmte österreichische Nationalökonom Joseph Schumpeter hat in seinem Werk "Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie" vier Bedingungen genannt, unter denen von einer funktionsfähigen demokratischen Ordnung gesprochen werden kann:
1. Eine hinreichend hohe Qualität des politischen Personals auf allen Ebenen.
2. Dass das Feld der politischen Entscheidungen und des politischen Kampfes nicht allzu weit ausgedehnt wird.
3. Eine leistungsfähige Bürokratie mit starkem Pflichtgefühl und Korpsgeist.
4. Die Existenz einer demokratischen Selbst- und Qualitätskontrolle.
Erfüllt unser heutiges politisches System diese vier Bedingungen Joseph Schumpeters? Gehen wir sie durch:
1. Davon, dass sich die besten Köpfe der Nation der vornehmsten Aufgabe, nämlich der Lenkung des Staates, widmen, kann keine Rede sein. Österreich hat hervorragende Manager, Unternehmer und Wissenschafter, die nicht im Traum daran denken, in die Politik zu gehen. Denn sie wissen: Die Politik ist ein hermetisch abgeschlossenes System der Parteien mit eigenen Spielregeln, wenig Gestaltungsmöglichkeiten und verschwindend geringem öffentlichen Ansehen. In die Politik geht daher (Ausnahmen bestätigen die Regel) nur die zweite oder gar dritte Garnitur.
2. Schumpeters Forderung nach einer Selbstbeschränkung des politischen Systems wird heute keinesfalls erfüllt. Dass in weiten Bereichen des öffentlichen Lebens der Sachverstand und nicht die Politik entscheiden sollte, ist ein unerfüllter Traum. Man denke nur an die mittlerweile rein (partei-)politischen Entscheidungen der Europäischen Zentralbank.
Selbstbeschränkung ist für die Politik überhaupt ein Fremdwort. Ungeniert mischt sie sich in die privatesten Angelegenheiten der Bürger ein und schreibt mittlerweile sogar schon jungen Müttern vor, wie lang sie bei ihrem Baby daheimbleiben dürfen.
3. Eine Bürokratie mit Pflichtgefühl und Korpsgeist ist laut Schumpeter ein wichtiges sachliches Korrektiv und eine fachliche Beratung für die "Regierung durch Amateure". Leider hat die Politik in den vergangenen Jahrzehnten alles unternommen, um sich dieses Korrektivs zu entledigen. Durch die Zurückdrängung der Pragmatisierung und die Vergabe der Spitzenpositionen nur noch auf Zeit hat sich die Politik die Beamtenschaft gefügig gemacht. Die Ausdehnung der politischen Ministerkabinette tat ein Übriges, um die Bürokratie zu entmachten. Das beweist zum Beispiel die klägliche Rolle, die das Offizierskorps in Sachen Bundesheer-Reform spielt.
4. Eine demokratische Selbst- und Qualitätskontrolle fordert Schumpeter sowohl von der Politik als auch vom Wähler. Beide sollen "auf einem genügend hohen moralischen und intellektuellen Niveau" agieren, um ein Funktionieren der Demokratie zu garantieren.
Über die Moral der Politiker wurde schon viel geschrieben, aber wie steht es um den Intellekt der Wähler? Hier liegt der Verdacht nahe, dass bereits allzu viele Bürger zu den Nettoempfängern des Sozialstaates gehören und daher ihre Wahlentscheidung nicht nach Intellekt, sondern nach handfesten finanziellen Interessen treffen. Was den demokratischen Wettbewerb arg verzerrt.
Schumpeter wäre also nicht wirklich zufrieden mit unserer heutigen Politik. Von ihm stammt übrigens auch der Satz, dass der "Wille des Volkes" das Erzeugnis und nicht die Triebkraft des politischen Prozesses ist.