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Geburtstagskind ohne Geburtsurkunde

Die 70-jährige Republik hat nur eine ersatzweise Geburtsurkunde: einen seltsamen Brief an Josef Stalin.

Alexander Purger

Na gratuliere! Die Republik feiert ihren 70. Geburtstag, obwohl es gar keine Geburtsurkunde gibt. Die Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 (siehe Seite 3) liegt nur in Abschriften vor, von denen keiner weiß, ob sie nicht nachträgliche Änderungen enthalten. Das Original ist verschollen. Einfach weg.

Das ist insofern bitter, als man in Österreich ohne Geburtsurkunde eigentlich nicht existiert. Ohne Geburtsurkunde kein Kindergeld, kein Schuleintritt, keine Pension, kein gar nichts. Vermutlich kann man sich ohne Geburtsurkunde nicht einmal begraben lassen. Weil da könnte ja ein jeder kommen.

Der Verlust der Original-Unabhängigkeitserklärung ist daher nur zu verschmerzen, da die eigentliche Geburtsurkunde der Zweiten Republik ja eine andere ist: der Brief, den der spätere Staatskanzler Karl Renner am 15. April 1945 an Josef Stalin geschrieben hat. Dieser Brief ist die erste öffentliche Äußerung eines Repräsentanten der kommenden Zweiten Republik, kann also als eine Art Urkunde von deren Geburt bezeichnet werden.

Renner rutscht in dem Brief, der derzeit im Original im niederösterreichischen Landesmuseum in St. Pölten zu sehen ist, auf den Knien vor dem "ruhmbedeckten Obersten Befehlshaber der Roten Armee" herum:

"Dank Russlands erstaunlicher Machtentfaltung hat unser ganzes Volk die Verlogenheit zwanzigjähriger nationalsozialistischer Propaganda völlig durchschaut und ist voll Bewunderung für die gewaltige Leistung der Sowjets", schreibt der Sozialdemokrat Renner. "Das Vertrauen der österreichischen Arbeiterklasse in die Sowjetrepublik ist grenzenlos geworden. Daß die Zukunft Österreichs dem Sozialismus gehört, ist unfraglich und bedarf keiner Betonung." - Mit der letzten Feststellung hat Renner, wie man an der heutigen Politik aller unserer Parteien sieht, völlig recht gehabt. Der Rest des von Stalin-Begeisterung getränkten Briefes muss hingegen etwas überraschend wirken, hatte Renner doch nur sieben Jahre davor öffentlich zum Ja zum "Anschluss" an Hitler-Deutschland aufgerufen.

Eine "elastische politische Figur" nennt der Zeitgeschichtler Oliver Rathkolb das. Und er erinnert daran, dass Renner zur gleichen Zeit, als er Stalin hofierte, dafür sorgte, dass die Westalliierten von den Übergriffen und Vergewaltigungen der Roten Armee in Ostösterreich erfuhren, damit die Amerikaner, Briten und Franzosen rascher nach Wien kamen.

Man kann jetzt ewig darüber streiten, ob Renner ein opportunistisches Schlaucherl oder ein genialer Realpolitiker war. Jedenfalls wird es kein Zufall gewesen sein, dass dieser Mann gleich zwei Mal die Republik Österreich aus der Taufe gehoben hat.