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Marktplatz und Baumhaus

Demokratie ist eine feine Sache. Diese Woche fand zum Beispiel im ORF-Publikumsrat Demokratie statt.

Alexander Purger

Das Gremium - die oberste Vertretung der ORF-Zuseher - wählte zu seiner Vorsitzenden eine ehemalige Redakteurin der sozialistischen "Arbeiterzeitung" und zu ihrem Stellvertreter den Ehemann einer SPÖ-Politikerin.

Die Wahl erfolgte, wie es hieß, "mit breiter Mehrheit", was leicht erklärt ist: Offenbar schauen nur SPÖ-Mitglieder ORF. Die meisten Publikumsräte stehen jedenfalls der SPÖ nahe und wählten klarerweise"mit breiter Mehrheit" zwei der Ihren an die Spitze. Das ist Demokratie.

Und das war schon immer so. Als im 15. Jahrhundert die Geldwechslerfamilie Medici die Macht in Florenz übernahm, achtete sie peinlich genau darauf, dass die Spielregeln der Republik mit geheimer Wahl und all dem Brimborium formal nicht angetastet wurden. Die Medici änderten am Wahlvorgang nur eine winzige Kleinigkeit:

In den Lederbeutel, aus dem man dann jeweils die Amtsträger des nächsten Jahres zog, wurden nicht mehr die Namen aller 3000 Patrizier, sondern nur noch jene von 100 engen Medici-Vertrauten gesteckt. Die Wahl bzw. Ziehung selbst erfolgte dann natürlich streng geheim oder, wie man heute sagen würde, "mit breiter Mehrheit".

Überhaupt hilft manchmal ein Blick in die Vergangenheit, um die Demokratie verstehen zu können. Warum heißt es zum Beispiel "Tagung"? Warum tagt der Nationalrat und nächtigt nicht (das tun während der Tagung nur ganz vereinzelt Abgeordnete)? Die Antwort ist im alten Griechenland zu suchen, wo ja bekanntlich die Babyrassel der Demokratie schepperte.

Dort war es so, dass das Volk auf dem Marktplatz per Handaufheben abstimmte. Eine Vorgangsweise, der logischerweise nur so lang funktionierte, als man die erhobenen Hände sehen und zählen konnte. Und die Griechen waren offensichtlich schon damals finanziell derart parterre, dass sie sich auf der Agora kein Flutlichtanlage leisten konnten. Also Tagung.

In Erinnerung an die athenische Demokratie hat man übrigens im österreichischen Parlament das Dach des Nationalratssitzungssaals derart verfallen lassen, dass es bisweilen auf die tagenden und nächtigenden Abgeordneten herabregnet. Das hat entgegen anders lautender Behauptungen nichts mit der Kürzung der Ermessensausgaben zu tun. Es ist alles nur wegen der antiken Marktplatz-Atmosphäre.

Eine andere Wiege der Demokratie stand im Vatikan, wo die älteste noch bestehende Wahlmonarchie der Welt zu Hause ist. Der Wahlmodus, der dort entwickelt wurde, ist das Konklave: Die Entscheidungsträger werden weggesperrt und erst wieder freigelassen, wenn sie sich entschieden haben.

Enttäuschenderweise hat Österreich diese Demokratievariante nicht übernommen. Angeblich wurde es in den Bauernrepubliken im Bregenzerwald einmal versucht: Man setzte den Gemeinderat in ein Baumhaus, das möglichst hoch in irgendeinem Wipfel hing, nahm die Leiter weg und stellte sie erst wieder hin, wenn sich die Gemeinderäte geeinigt hatten. Das soll die politischen Prozesse damals ganz schön beschleunigt haben.

Die Erklärung, warum dieser luftige Pilotversuch nicht ins Regelpolitikwesen übernommen wurde, erübrigt sich. Man stelle sich vor, man würde heute die Vertreter von Bund, Ländern, Gemeinden (und die Sozialpartner nicht zu vergessen) zwecks Verhandlungen über eine Reform der Schulverwaltung in ein Baumhaus sperren und ihnen erst im Falle einer Einigung wieder die Freiheit schenken. - Da würde man bald ein Problem mit der Menschenrechtskonvention bekommen, denn lebenslange Haftstrafen sind dort nur in Sonderfällen erlaubt. Und ist politische Unfähigkeit bei uns ein Sonderfall? Na eben.

Womit wir uns für heute vertagen.