Gedenkjahre haben den Vorteil, dass man sich mit weit zurückliegenden, historischen Ereignissen auseinandersetzen muss. Die aktuelle Frage lautet: Wer war schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs? Auf der sicheren Seite ist, wer alle Schuld den Deutschen und der Donaumonarchie gibt.
Deutschland war ein Hort des Militarismus, Österreich-Ungarn ein Völkerkerker und Thronfolger Franz Ferdinand an seiner Ermordung selbst schuld, denn er hätte ja nicht nach Sarajevo fahren müssen. Außerdem war er ein unsympathischer Zeitgenosse und erschoss als Jäger unzählige Tiere. Da darf man sich dann nicht wundern. - So sieht die politisch korrekte Sicht der Dinge vor 100 Jahren aus.
Nach dieser Auffassung war Österreich übrigens auch schon an den beiden Wiener Türkenbelagerungen schuld, von denen man a) überhaupt nicht mehr reden soll, weil das die Türken beleidigen könnte, und die b) von Österreich durch Nicht-Kämpfen hätten vermieden werden müssen. Denn wenn die Osmanen unser Land haben wollten, warum hat man es ihnen nicht einfach gegeben? Dass sich Österreich gegen die versuchte Landnahme gewehrt habe, sei typisch für den Imperialismus der machtgierigen Habsburger gewesen.
Diese Geschichtsauffassung führt dazu, dass der heutige "Sultan" Erdogan (wie er von seinen Anhängern genannt wird) in seiner jüngsten Wiener Rede liebevoll auf die Türkenbelagerungen anspielte und dafür stürmischen Applaus erntete, während wir Österreicher uns dafür genieren, dass wir uns damals gegen einen Aggressor verteidigt haben.
Doch Gedenkjahre haben den Vorteil, dass sie historische Fragen nicht nur aufwerfen, sondern auch beantworten. Zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs ist eine Fülle neuer Forschungsergebnisse veröffentlicht worden, die der eingangs zitierten Sicht der Dinge widersprechen.
Christopher Clark schreibt in seinem Buch "Die Schlafwandler", Frankreich und Russland hätten durch ihre demonstrative Unterstützung Serbiens die Lunte für den Krieg gelegt. Für Österreich-Ungarns Ultimatum an Belgrad äußert der australische Historiker Verständnis. Es sei wesentlich harmloser gewesen als das Ultimatum, das die NATO 1999 an Serbien gerichtet habe. Zum Vorwurf des Militarismus merkt Clark an, dass Österreich-Ungarn am Vorabend des Kriegs das mit Abstand niedrigste Heeresbudget und die kleinste Armee aller Großmächte hatte. Auch das Deutsche Reich habe weniger für seine Streitkräfte ausgegeben als Russland und Frankreich.
Dass die Donaumonarchie ein Völkerkerker gewesen sei und zwangsläufig habe zerfallen müssen, weist der Cambridge-Professor als Propaganda ihrer Gegner zurück. Er hebt im Gegenteil die Leistungen des Habsburgerreichs für "staatliche Bildung, Sozialhilfe, Gesundheitswesen, Rechtsstaatlichkeit und Infrastruktur" hervor und bezeichnet sie als System der kollektiven Sicherheit, dessen Wert sich daran ermessen lässt, was danach kam.
Der deutsche Politikwissenschafter Herfried Münkler rückt Österreich-Ungarn in seinem Buch "Der Große Krieg" gar in die Nähe der heutigen Europäischen Union - eines "benevolenten Imperiums, das in seine Peripherie investiert, um sie politisch zu stabilisieren". Seiner Ansicht nach wäre die Monarchie zum Vorläufer einer mittel- und südosteuropäischen Union geworden, wenn sie rechtzeitig auf Reformen gesetzt hätte. Münkler verweist auf die Pläne von Thronfolger Franz Ferdinand für einen "Trialismus", also die Gleichstellung der Slawen in der Monarchie mit Österreichern und Ungarn. Münkler deutet in diesem Zusammenhang an, dass Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo nicht ermordet wurde, weil er ein Feind der Slawen war, sondern weil er im Gegenteil die Nationalitätenkonflikte in der Monarchie entschärfen wollte, woran ihre Gegner kein Interesse haben konnten.
Münkler schreibt übrigens auch, dass es nicht das Deutsche Reich war, das im Ersten Weltkrieg zuerst Giftgas einsetzte. Seinen Angaben nach waren die Deutschen zwar für einige der folgenschwersten Giftgasangriffe im Kriegsverlauf verantwortlich. Die Ersten, die mit Giftgas hantiert hätten, seien aber die Franzosen gewesen. 350 der 400 Giftgasangriffe im Kriegsverlauf seien von Franzosen und Engländern unternommen worden.
Der österreichische Militärhistoriker Manfried Rauchensteiner berichtet, dass Kaiser Karl I. den Einsatz von Giftgas wie auch das Abwerfen von Fliegerbomben von seiner persönlichen Zustimmung abhängig machte. Kommandanten, die leichtfertig mit dem Leben ihrer Soldaten umgingen, drohte er schwerste Strafen an. - Forschungsergebnisse wie diese sind eine wertvolle Hilfe für eine weniger einseitige Geschichtsbetrachtung.