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"Monogamie war nie vorgesehen": Wie offene Beziehungen funktionieren

Eine Umfrage unter Singles weist aus, dass sich rund 15 Prozent eine Beziehung mit mehr als einer Person wünschen: Eine Sexologin skizziert die Vor- und Nachteile der Polyamorie.

Es gibt viele Möglichkeiten, nicht-monogam, aber trotzdem in einer festen und vertrauensvollen Beziehung zu leben.
Es gibt viele Möglichkeiten, nicht-monogam, aber trotzdem in einer festen und vertrauensvollen Beziehung zu leben.

Eine Frau, die neben ihrer Beziehung zu ihrem Ehemann auch regelmäßig Sex mit einer Freundin hat. Ein Männertrio, das eine gemeinsame Liebesbeziehung führt. Ein junges Elternpaar, das eine offene Beziehung lebt.

Was diese - allesamt realen - Beispiele von offenen oder polyamorösen Beziehungsmodellen eint, ist, dass sie Teil einer transparenten Abmachung sind. Darin besteht auch der Unterschied zu einer Affäre oder einem Seitensprung. Denn bei einer offenen oder polyamorösen Beziehung wissen alle Beteiligten voneinander - und alle sind mit diesem Beziehungsmodell einverstanden. Sobald einem Partner oder einer Partnerin etwas verheimlicht oder vorgemacht wird, ist die Grenze zum Fremdgehen überschritten.

Was diese Beispiele verdeutlichen: Es gibt viele Möglichkeiten, nicht monogam, aber trotzdem in einer festen und vertrauensvollen Beziehung zu leben. Nehmen wir etwa eine offene Beziehung, in der einer oder beide nebenbei "G'schichtln" mit anderen haben. In einer offenen Beziehung ist das Gespräch über oder sogar mit diesen "G'schichtln" möglich. Manche interessiert jedes Detail, andere wollen nur wissen, ob es da jemand anderen gibt.

Eine aktuelle Studie kommt zu dem Ergebnis, dass grob jede achte Person (12,7 Prozent) in einer monogamen Zweierbeziehung keine sexuelle Erfüllung findet. 15,4 Prozent der Befragten berichteten zudem, dass sie romantische Erfüllung nur in einer Beziehung mit mehr als einer Person erreichen können. An der Umfrage, die von einer großen deutschen Datingplattform durchgeführt wurde, nahmen 1066 Singles teil.

Doch es gibt große Unterschiede zwischen den Geschlechtern - zumindest in der Studie: Bei den Frauen bezeichneten sich 7,5 Prozent als "polypartnersexuell", bei den Männern waren es fast 18 Prozent und bei nicht-binären Personen fast jede dritte (29 Prozent).

Die Sexologin und Psychotherapeutin Natascha Ditha Berger ordnet ein: "Männer leben dieses Bedürfnis sicher mehr aus." Woran das liegt? "Bei Frauen ist es gesellschaftlich weniger akzeptiert, wenn diese mehrere Partnerinnen und Partner haben. Andererseits glaube ich auch, dass das Bedürfnis bei Frauen weniger stark ist."

Im SN-Gespräch erklärt Berger, die romantische Liebe sei ein relativ neues Phänomen, das von der Natur so nicht vorgesehen ist: "Die Biologie hat für den Menschen keine Monogamie vorgesehen." Die Psychotherapeutin, die mit der Wiener "Polygruppe" eine wiederkehrende psychotherapeutische Selbsterfahrungsgruppe leitet, führt aus: "Im Gehirn steuert das limbische System unsere Urinstinkte - etwa jenen, sich mit dem bestmöglichen genetischen Mix zu vermehren. Der Neocortex hingegen, der uns auch Denken und Sprache ermöglicht, verschafft uns die Möglichkeit, uns für ein Beziehungskonzept zu entscheiden."

Das führe dazu, dass sich viele Menschen zwar die Geborgenheit und Sicherheit einer Paarbeziehung wünschten. Nicht wenige packe aber früher oder später auch wieder Lust auf das "Anfangsknistern", das man in einer langjährigen Beziehung nicht einfach wieder "herzaubern" könne, betont Berger: "Diesen Nervenkitzel kann jemand, den oder die man schon in- und auswendig kennt, einfach nicht bieten."

Daher werde dieses Bedürfnis nach (sexuellen) Abenteuern oft mit heimlichen Affären oder Seitensprüngen gestillt, was nicht selten zu einer Trennung führe: "Dabei ist Vertrauen doch das größte Gut, das man in einer Beziehung hat", betont die Sexologin. Davon, dass die wenigsten "bis der Tod sie scheidet" in ein und derselben monogamen Beziehung bleiben, zeugt auch die hohe Scheidungsrate: In Österreich lag diese im Vorjahr bei 36 Prozent.

Doch auch die Beziehung nicht-monogam zu gestalten scheint kein Garant dafür zu sein, dass diese ewig hält. Berger schildert den "Paradefall", den sie in ihrer Beratungspraxis oft erlebt: "Meist geht der Wunsch, die Beziehung zu öffnen, vom Mann aus. Wenn er dann merkt, dass sich seine Frau viel leichter damit tut, neue Sexualpartnerinnen und -partner zu finden, wird es den Männern oft sehr schnell zu viel und sie wollen wieder zurück zum monogamen Beziehungsmodell. Doch dann hat die Frau oftmals bereits großen Gefallen an dem neuen Beziehungsmodell gefunden - und dann kommt es häufig zur Trennung."

Die Grenze von offenen Beziehungen hin zu Polyamorie verläuft dabei fließend. Der Begriff "Polyamorie" geht auf das griechische "polŷs" (viel, mehrere) und das lateinische Wort "amor" (Liebe) zurück. Der Wiener Sozialwissenschafter Stefan Ossmann definiert Polyamorie als "konsensuelle Beziehung zwischen mehr als zwei Personen", die "auf emotionaler Liebe und intimen Praktiken" basiert und "über einen längeren Zeitraum hinweg" besteht.

Auch Sexologin Berger betont, dass es bei Polyamorie um mehr als Sex gehe: "Was als sexuelles Abenteuer begonnen hat, kann zur Freundschaft werden, und später können ,friends with benefits' (Freundschaften mit sexuellen Abenteuern, Anm.) daraus weden."

Das alles bedeutet auch: Zwischenmenschliche Beziehungen sind ein dynamischer Prozess, den es auszuverhandeln gilt. Das gelte insbesondere für Beziehungen, in denen mehr als zwei Menschen involviert seien, sagt Berger.

Paaren, die ihre monogame Beziehung öffnen oder Polyamorie ausprobieren wollen, rät Berger, langsam zu beginnen: "Das kann ein Flirt sein, oder ein Kuss - und dann schaut man, wie es dem Partner oder der Partnerin, aber auch einem selbst damit geht."

Prinzipiell brauche es stärkere gesellschaftliche Akzeptanz und Aufklärung zu nicht-monogamen Beziehungsmodellen, sagt Berger und betont: "Hinsichtlich verschiedener, nicht-monogamer Lebensweisen wird sich noch viel verändern." Sie fordert daher, dass Ärztinnen, Juristen und Psychotherapeutinnen hinsichtlich Beziehungsmodellen, die von der Norm abweichen, geschult werden: "Professionalistinnen und Professionalisten müssen sich auskennen." Etwa im psychotherapeutischen Setting führe es oft zum Therapieabbruch, wenn sich der Patient in der gewählten Beziehungsform nicht akzeptiert und verstanden fühlt - ein Thema, dem die Psychotherapeutin und Sexologin auch ein Buch gewidmet hat: "Polyamorie & Identität in der psychotherapeutischen Praxis" (Pabst-Verlag).