Herr Krüger, Sie propagieren, Kuscheln sei unterschätzt. Inwiefern? Wolfgang Krüger: Kuscheln ist nicht so abenteuerlich dramatisch wie Küssen und Sexualität. Bei Küssen und Sexualität geht es um eine Form der Verschmelzung; bei Sex kann man zum Höhepunkt kommen. Beim Kuscheln geht es vielmehr um simple Dinge: Wenn wir zum Beispiel Hand in Hand spazieren gehen, passiert nicht viel, aber es kann uns große Innigkeit geben.
Sie sagen gar, fast alle seelischen Probleme beruhen auch auf einem Kuscheldefizit. Ja, fast alle seelischen Probleme beruhen auch auf einer mangelnden Verbundenheit mit der Welt und damit auch auf einem Kuscheldefizit. Wir müssen bedenken, dass unser Leben auf einer Vertrauensbeziehung zu unseren Eltern aufbaut, welche im Wesentlichen aus Berührungen und Zärtlichkeiten besteht: Als Kinder konnten wir hoffentlich viel kuscheln und hatten ständig Berührungen - das macht auch unser Vertrauen in die Welt aus. Als Erwachsene können wir dann ein riesiges Kuscheldefizit haben - vor allem Singles. Wenn wir eine Partnerschaft haben, sind wir meist wenigstens halbwegs versorgt. Deshalb plädiere ich dafür, sich zu vergegenwärtigen, wie unendlich wichtig Berührungen sind. Es gibt Menschen, die sich diese regelmäßig durch Massagen oder auch Physiotherapie holen - und man merkt, wie sie aufleben. Für Beziehungen rate ich, Rituale zu haben. Ich habe zum Beispiel mit meiner Frau die Absprache, dass wir uns jeden Abend den Rücken massieren: Wenn einer auch nur Piep sagt, also das geringste Interesse zeigt, bekommt der eine lange Massage und der andere bekommt sie zurück. Wir schlafen dadurch merklich besser.
Aber wieso ist das Kuscheln so wichtig? Was genau geben uns die innigen Berührungen? Zunächst einmal eine intensive Verbindung mit der Welt, wir sind nicht einsam, nicht zurückgezogen, fühlen uns aufgehoben. Andererseits komme ich zu mir, ich werde ruhig - Kuscheln ist die beste Möglichkeit, um Stress zu reduzieren.
Aber es gibt auch biologische Folgen - Stichwort Oxytocin, auch Kuschelhormon genannt. Ja, die gibt es. Das belegen unendlich viele Experimente: Wenn Leute mit bestimmten Viren in Verbindung kommen und vorher gekuschelt haben, werden sie weniger krank, da ihre Immunabwehr erheblich stärker ist. Ich habe auch ein persönliches Beispiel: Ich bin vor langer Zeit im Krankenhaus gewesen, dort war die Stimmung nicht gut, den Leuten ging es nicht gut. Da gab es aber eine sehr temperamentvolle Krankenschwester, die immer am Abend alle Patienten umarmt hat. Prompt ging es den Leuten besser. Und nicht nur das: Die Werte wurden besser, es ging ihnen also auch regelrecht körperlich gut.
Es gibt Länder, wo wesentlich mehr umarmt wird, in Spanien oder Italien zum Beispiel. Und wir wissen, dass die Leute dort gesünder sind und länger leben. Das führt man unter anderem auch auf die soziale Herzlichkeit zurück.
Dann umso mehr: Haben Sie Tipps, wie wir das Kuscheldefizit beheben können? In einer Partnerschaft sollte man sich mindestens vier Mal am Tag fast absichtslos umarmen. Es braucht keinen Grund, man kann einfach in der Küche stehen. Weil wir das häufig vergessen, sollten wir es viel mehr automatisieren, es braucht Rituale. Aber was vor allem Männer begreifen sollten: Es geht um Kuscheln, nicht um Sex. Frauen beschweren sich oft, dass beim Kuscheln die Hände der Männer wandern, dass sie es als Türöffner für Sex sehen. Da werden die Frauen angespannt, denn es entwertet das Kuscheln. Kuscheln kann zu Sex führen, aber Männer sollten auch das Kuscheln genießen.
Kann der Sex selbst unser Bedürfnis nach Nähe befriedigen? Kuscheln hat auch in sich, dass ich mich mit dem Partner verbunden fühle. Beim Sex gibt es ja gar eine körperliche Verschmelzung, da ist man sich also auch sehr nahe. Aber Sexualität hat meistens eine andere Art und vor allem ein anderes Tempo: Vor allem für Männer muss beim Sex oft die Post abgehen, es ist ein leichter Ausnahmezustand. Beim Kuscheln fahren wir hingegen eher runter. Kuscheln erdet uns, damit wir unsere Wurzeln finden, bei Sexualität sind wir im aktiven Zustand.
Zurück zu den Tipps: Wie sollten Singles mit dem Kuscheldefizit umgehen? Ein Kuscheldefizit als Single sollte uns vorab zu der Frage führen, ob wir nicht doch eine Partnerschaft eingehen wollen. Darüber hinaus können wir in Freundschaften und anderen Beziehungen viel kreativer sein: Wir können zum Beispiel einführen, dass wir uns den Rücken massieren. Frauen sind in Freundschaften durchaus schmusig, gehen Hand in Hand spazieren, streicheln sich über den Rücken - das kann man regelrecht ritualisieren.
Ich war in meinem Leben selten Single. Aber wenn ich es war, und ich war Rad fahren oder wandern, dann habe ich meine leichte Rückenerkrankung gerne als Anlass genommen, um mir den Rücken massieren zu lassen. Und es gab immer irgendjemanden, der es getan hat. Da habe ich mir meine Kuscheleinheiten auf ganz freche Weise geholt. Man muss also nur einen gewissen Mut haben. Dazu kann man schauen, wo es Angebote gibt. Hier in Berlin gibt es auch Kuschelpartys oder - relativ teure - Kuschelpraxen, bei denen es um Zärtlichkeiten geht, es soll dem Betroffenen gut gehen. Im Notfall kann ich mir aber auch ein Haustier anschaffen.
Ein Haustier kann ähnliche Effekte haben? Meine Tochter hat einen Windhund: Er hat die Gewohnheit, sich neben einen zu legen und den Kopf auf den Bauch zu geben. Das ist unendlich beruhigend. Oder auch, wenn eine Katze schnurrt. Das ist selbstverständlich nicht zu vergleichen mit den Zärtlichkeiten eines Partners. Aber es ist schon eine Möglichkeit, etwas gegen das Kuscheldefizit zu tun. Man weiß ja, dass Leute, die Haustiere haben, gesünder und glücklicher sind. Das liegt auch am automatischen Körperkontakt.
Kann ich Teile des Defizits auch selbst beheben, also durch Eigenberührung? In bestimmten Situationen kann das ausgesprochen hilfreich sein. Zu seinem Körper ein gutes Verhältnis zu haben, ihm was Gutes zu tun, das ist wichtig. Wir sind aber schon sehr weit von dem entfernt, wenn uns andere berühren: Das hat eine ganz andere Tiefe, eine andere Intensität - gerade bei ruhigen Zärtlichkeiten. Ich vermute, das liegt auch daran, dass ich so das Gefühl habe, bei anderen in guten Händen zu sein: Es geht um das Aufgehobensein und um Vertrauen.
Zum Abschluss: In der kalten Jahreszeit sehnen wir uns spürbar stärker nach Nähe. Liegt das nur an der Kälte? Es ist kein Zufall, dass der Weltkuscheltag (21. Jänner, Anm.) in die kalte und dunkle Jahreszeit zwischen Weihnachten und Valentinstag fällt. Diese ist vor allem für Singles eine Herausforderung, da wir viel weniger Menschen spontan treffen. Im Sommer sind wir mehr draußen - im Winter ziehen wir uns in die Wohnung zurück. Dieser Rückzug ist immer potenziell verbunden mit einer gewissen Form von Einsamkeit. Wenn dann die Wärme nicht da ist, die Sonne nicht scheint, ist die Gefahr größer, in eine depressive Stimmung zu kommen. Im Winter sind wir also noch mehr auf Körperkontakt angewiesen.
Wolfgang Krüger ist Psychotherapeut und Buchautor in Berlin. Mit der Bedeutung von Berührungen setzte er sich etwa in den Büchern "So gelingt Liebe" oder "Glück ist das beste Medikament!" auseinander.