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"Schleichwege" zu Menschen mit Demenz

Menschen mit Demenz haben eine hohe emotionale Schwingungsfähigkeit. Es braucht aber großes Einfühlungsvermögen, um mit ihnen in Beziehung zu sein. Welche Wege gibt es?

Humor ist im Umgang mit Menschen mit Demenz eine wichtige Ressource.
Humor ist im Umgang mit Menschen mit Demenz eine wichtige Ressource.

"Menschen mit Demenz zeigen uns, was Menschsein alles heißt", sagt Thomas Klie, Sozial- und Rechtswissenschafter an der Evangelischen Hochschule Freiburg. "Menschsein heißt nicht nur funktionieren, nicht nur schnell sein und sich selbst optimieren, nein, es heißt auch zulassen können, dass manche Ausdrucksmöglichkeiten des Lebens nicht zur Verfügung stehen."

Mit seinem aktuellen Buch "Recht auf Demenz" will der renommierte Sozialexperte die verbreitete defizitäre Sichtweise auf Demenz korrigieren. Es geht um die Würde dieser Menschen und darum, was sie uns sagen. "Menschen mit Demenz werfen uns aus unseren funktionalen und sehr durchgetakteten Alltagen hinaus und fördern, wenn es gut geht, auch unseren Humor."

Dabei ist sich Klie der Herausforderungen aus seinem persönlichen Erfahrungshintergrund durchaus bewusst. Zwölf Jahre lang hat seine Familie den von mehreren Schlaganfällen getroffenen Vater versorgt. "Ich erinnere mich an anstrengende Nächte, an lustige Begebenheiten im Restaurant, wenn mein Vater mit seinem halbseitigen Gesichtsfeldausfall sich auf fremden Tellern bediente, an eine bis dahin wenig gelebte emotionale Nähe und die nicht abreißenden Aufgaben des Alltagsmanagements."

Menschen mit Demenz haben hohe Sensibilität

In einer hohen emotionalen Schwingungsfähigkeit und einer großen Fähigkeit, in Beziehung zu treten, sieht Klie herausragende Eigenschaften von Menschen mit Demenz. Im Gespräch mit den "Salzburger Nachrichten" erzählt er dazu ein Beispiel: "Wir haben eine Zeit lang neue Wohnformen für Menschen mit Demenz beobachtet. Eine Mitarbeiterin hatte vor zwei Tagen ihren Vater verloren und war trotzdem da. Eine Frau mit einer schweren Demenz, die nie etwas gesagt hat, sprach die Mitarbeiterin in dieser Situation an, indem sie sagt: Du siehst heute traurig aus."

Diese spontane Reaktion zeigt die hohe Sensibilität von Menschen mit Demenz. Das hat freilich auch die Konsequenz, dass sie jede Zurückweisung nicht nur als Kränkung, sondern als Demütigung erleben. Es braucht ein großes Gespür von Angehörigen oder Pflegekräften, zumal man oft auf einen nonverbalen Umgang angewiesen ist.

Gewohnter Umgang ist essentiell

Mehrfach fällt im Gespräch mit dem Sozialexperten der Ausdruck "Schleichwege": "Wir haben eine hohe Verantwortung, uns auf den Schleichweg zu diesen Menschen zu begeben, um herauszufinden, was für sie wichtig ist." Während der Lockdowns habe es teils dramatische Folgen gehabt, wenn etwa der Partner, die Partnerin nicht zur Essensversorgung in das Heim kommen durfte. "Menschen mit Demenz können daran sterben, wenn man ihnen ihren gewohnten Umgang wegnimmt."

Wie in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen gebe es auch in der Sorge um Menschen mit Demenz das Scheitern, sagt Klie. "Nicht alle Menschen - mit oder ohne Demenz - sind Engel. Sie können aggressiv werden." Die Geschichten von Menschen, die an einer Demenz scheitern, dürften aber nicht den Blick auf die Hunderttausenden Angehörigen und Pflegekräfte verstellen, die Tag für Tag um ein gutes Leben mit Demenz ringen. "Das macht Mut", betont der Sozialexperte. "Es entsteht das Bild einer sorgenden Gesellschaft, die es als kulturelle Leistung versteht, dass Menschen mit Demenz ein gutes Leben führen können."

Bild: SN/m.doradzillo
„Wir sollten unsere Sensoren ausfahren.“ Thomas Klie, Sozialwissenschafter

Welche Vorsorge gibt es dafür? Klie nennt zuerst die Sorgepflicht der Gesellschaft: Für dich ist gesorgt, auch wenn du an Demenz erkranken solltest. Dazu komme eine persönliche soziale Vorsorge: "Freundschaften leben und in vertrauensvollen Beziehungen leben mit Menschen, von denen ich das Gefühl habe, die können mich verstehen." Und wieder fällt dabei der Begriff "Schleichweg": "Es geht um Menschen, die nicht paternalistisch ihre Entscheidung durchsetzen, sondern sich auf den Schleichweg zu mir machen, um zu erkunden, was jetzt für mich das Richtige wäre, was immer es sei." Auch für jedwede rechtliche Vorsorge - etwa eine Vorsorgevollmacht oder eine Patientenverfügung - sei eine vertrauensvolle Beziehung die wichtigste Basis.

Austausch für Angehörige wichtig

Was wäre demnach als Erstes zu tun, wenn sich Anzeichen von Demenz zeigen? Einerseits Lektüre, dass man sich schlau macht, sagt der Sozialwissenschafter, andererseits sehr schnell Kontakt aufnehmen zu einer Alzheimer-Gruppe, wo sich Menschen mit Demenz treffen, wo ich meine Erfahrungen teilen und in einem von Vertrauen geprägten Umfeld über meine Situation reden kann. "Das ist ganz, ganz wichtig", betont Klie, "sich mit gleich Betroffenen zusammenzutun, um Sicherheit und Zugehörigkeit zu finden, ohne den Kontakt zu anderen Menschen aufzugeben."

Für Angehörige des erkrankten Menschen gelte es dann, sich auf die "Schleichwege" zu begeben. "Vieles ist medizinisch, diagnostisch abzuklären. Aber vieles bleibt Intuition. Es braucht daher neben der Expertise ein Fallverstehen, das sich aus dem Gesamteindruck ergibt, den ich von einem Menschen habe. Wie ist seine Stimmung, wie ist der Ausdruck seiner Haltung, in der er mir begegnet? Da können wir unsere Sensoren ausfahren."

Daten & Fakten: Leben mit Demenz

50 Millionen an Demenz erkrankte Menschen wurden zuletzt weltweit geschätzt. Sichere Angaben liegen nicht vor, da es keine systematische Diagnostizierung von Demenz gibt. Man geht davon aus, dass sich diese angenommene Zahl alle 20 Jahre verdoppeln und 2050 auf 152 Millionen ansteigen wird.

Positive Aussagen über ein Leben mit Demenz finden bei Angehörigen eine höhere Zustimmung als im Schnitt der Bevölkerung. Das zeigt das Ja zu folgenden Aussagen:
* Soziale Kontakte können sich positiv auf den Verlauf einer Demenz auswirken: 76% Ja in der Bevölkerung insgesamt/84% Ja bei pflegenden Angehörigen.
* Körperliche Zuwendung ist wichtig für Menschen mit Demenz: 68%/82%.
* Menschen mit Demenz können Liebe, Trauer und Dankbarkeit ebenso wie andere erleben: 52%/61%.
* Auch mit Demenz ist ein gutes Leben möglich: 39%/46%.
* Menschen mit Demenz besitzen oft Humor und lachen gern: 22%/32%.

Bei den Aufgaben der Gesellschaft gegenüber Betroffenen und Angehörigen steht mehr Unterstützung an erster Stelle:
* Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen brauchen mehr Unterstützung: 62%/70%.
* Ich vertraue, dass man gut mit mir umgeht, wenn ich dement werden sollte: 50%/60%.
* Pflegende Angehörige und Freunde erfahren viel Anerkennung: 16%/18%.

Thomas Klie:
"Recht auf Demenz. Ein Plädoyer"
TB, 18,50 €
Verlag Hirzel 2021