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Medienexperte zum Fall Lena Schilling: "Ein wenig Unaufgeregtheit würde uns guttun"

Wird Politik zu stark personalisiert, ist das ein Rückschritt in einen voraufgeklärten Diskurs, sagt Matthias Karmasin, Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Klagenfurt, im SN-Interview. Und: Warum die Krisenkommunikation der Grünen alles andere als professionell ist.

Generalsekretärin Olga Voglauer und EU-Spitzenkandidatin Lena Schilling.
Generalsekretärin Olga Voglauer und EU-Spitzenkandidatin Lena Schilling.
Medien- und Kommunikationswissenschafter Matthias Karmasin, Dekan der Fakultät für Sozialwissenschaften an der Universität Klagenfurt.
Medien- und Kommunikationswissenschafter Matthias Karmasin, Dekan der Fakultät für Sozialwissenschaften an der Universität Klagenfurt.

War die Veröffentlichung privater Chats der grünen Spitzenkandidatin ein Tabubruch?
Matthias Karmasin: Wie definiert man Tabubruch? Bei einem Qualitätsmedium wie dem 'Standard' nehme ich an, dass die Geschichten solide recherchiert sind. Die Menschen, die die Vorwürfe behaupten, haben das, davon gehe ich aus, dem 'Standard' gegenüber genau so gesagt. Die für mich als Kommunikationswissenschafter relevante Frage ist aber gar nicht so sehr, sind diese Behauptungen substanziell oder nicht. Sondern dass es hier gilt, über drei Grenzverschiebungen nachzudenken - und die gehen wiederum über den konkreten Fall hinaus.

Inwiefern?
Das eine ist die Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit. Das zweite die von Person und Programm. Und das dritte ist jene von Realität und Spekulation. Das sind keine neuen Fragen - dass die Mediendemokratie in Personalisierung mündet, dass es viel um Personen, aber wenig über Programme geht, ist nichts Neues. Aber das Pendel schlägt immer stärker in Richtung Personalisierung der politischen Diskurse aus. Und plötzlich diskutiert man über Charakterfragen, also darüber: Sind das ehrliche, aufrichtige Menschen. Diese Debatte ist nicht neu. Klassisch formuliert: Muss jemand, der Gutes fordert, auch selbst ein guter Mensch sein? Hat ein übergewichtiger Arzt recht, wenn er seinen Patienten rät, abzunehmen? Kann ein Reicher gegen Armut sein? Müssen Politikerinnen, wenn sie von anderen verlangen, weniger Fleisch zu essen, selbst weniger Fleisch essen?

Und, müssen sie?
Das hat man, um eine bekannte Anekdote zu bemühen, vor mehr als 100 Jahren dem Wertethiker Max Scheler vorgeworfen. 'Sie sind ja total unglaubwürdig', hieß es da: 'Sie behaupten, wir sollen anständig sein - und sind es selbst nicht!' Er hat angeblich mit dem berühmten Vergleich des Wegweisers geantwortet, der recht hat, obwohl er nie dort war - und auch nicht an das angezeigte Ziel gehen wird. Die Debatte ist also weder neu noch originell - Stichwort: Gesinnungsethik versus Verantwortungsethik; also kommt es darauf an, was die Effekte sind, oder geht es um die Einstellung, mit der ich es gemacht habe, unabhängig von den Ergebnissen. Aber die Debatte wird heute in der fragmentierten und polarisierten Öffentlichkeit anders und oft eher emotional denn rational geführt.

Inwiefern passiert da eine Grenzverschiebung?
Die Trennung von Argument und Person ist eine Errungenschaft der Aufklärung. Da erleben wir aber leider seit einiger Zeit einen Rückschritt. Insofern, als inzwischen die Person mit dem Programm soweit identifiziert wird, dass man sagt, das Programm ist schlecht, weil die Person, die es äußert, auch im privaten Kontext nicht einwandfrei handelt. Mir ist schon bewusst, dass es in der Mediendemokratie Menschen Interviews geben soll und nicht Programme. Man braucht Fotos und Geschichten in den sozialen Medien oder Podcasts. Aber wenn sich die Grenze hier zu stark verschiebt, schlägt das Pendel zu stark aus in Richtung Personalisierung. Also dass man Argumente damit diskreditiert, dass die Person, die sie äußert, angeblich auch im privaten Bereich unlauter und unmoralisch sei - dass man da ein charakterliches Muster erkennen würde, das auch für die Amtsführung disqualifiziere. Dann sind wir wieder ein wenig bei Max Scheler.
Ein bisschen hat sich das - so meine ich - zu sehr radikalisiert und zugespitzt in den letzten Jahren - zuungunsten der Qualität in der politischen Argumentation. Hier sollte das Pendel wieder ein wenig stärker in die Mitte gehen. Übrigens auch in den journalistischen Medien.

Welche Rolle spielen die Medien?
Grundsätzlich gilt wohl: Berichten, was ist, aber nicht, was sein könnte. Der Konjunktiv ist der Todfeind des seriösen Journalismus. In der jüngeren Vergangenheit werden aber viel zu viele Fragen im Konjunktiv formuliert. Ich bin der Meinung, dass die Grenzverschiebung von Fakten zu Spekulation dem Journalismus auch nicht guttut ("was wäre, wenn…").
Dass die Medien bei der radikalen Personalisierung und der damit einhergehenden Grenzverschiebung von öffentlich zu privat ihren Anteil haben, ist auch schwer von der Hand zu weisen. Und es stellt sich schon die Frage: Wenn ich eine Abgrenzung zu den Intermediären will, als VerlegerIn bzw. JournalistIn, folge ich da der Empörungsbewirtschaftung - und sogenannte soziale Medien betreiben Empörungsbewirtschaftung als Geschäftsmodell - oder schlage ich einen Weg ein, der sagt: Nein, wir reflektieren, wir ordnen ein, wir begründen, wir spekulieren nicht. Wir reflektieren etwa, ob die Personalisierung nicht zu weit geht. Wenn das Pendel in dieser Aufgeregtheit, in dieser Gereiztheit, in der wir kommunizieren, derart ausschlägt, würde uns dann ein wenig Unaufgeregtheit und nüchterner Diskurs auch im Sinne der Demokratie besser tun? Ich meine, ja. Denn die Trennung von Argument und Person war schon eine Errungenschaft, wenn Sie so wollen: ein zivilisatorischer Fortschritt der Aufklärung.

Wo sehen Sie die Grenze zwischen privat und öffentlich?
Die verschwimmt. Weil es nicht mehr diese scharfe Trennung gibt wie früher: Privat war, was ich im kleinen Kreis besprach, öffentlich war, was in den Massenmedien stand. Heute gibt es auch via die Plattformen viele Arenen-Öffentlichkeiten - die nicht alle, aber auch nicht nur ganz wenige betreffen, und die vor allem Inhalte reproduzierbar machen. Die jüngere Geschichte ist reich an Beispielen davon.
Wobei es meiner Meinung nach auch in diesem Kontext einen Unterschied macht, ob man als Amtsträger der Republik, als politischer Funktionär oder als Kandidat in diesen Semi-Öffentlichkeiten kommuniziert oder nicht. Es muss schon einen Unterschied machen, ob jemand auf einem Diensthandy der Republik über res publica kommuniziert oder auf seinem privaten Handy in einer Chatgruppe über private Dinge - unabhängig vom konkreten Fall. Aber: In der Tat kann in extremo jede private Handlung auch als politisch relevant gedeutet werden. Sogar wenn man sich am Wochenende ein Stück Fleisch auf den Grill legt - siehe oben -, und sogar das könnte man im Gerichtshof der öffentlichen Meinung zur Charakterfrage erklären.

Was hieße das umgelegt auf die aktuelle Debatte um Lena Schilling?
Dass man etwa darüber reden kann, ob das grüne EU-Programm programmatisch den Herausforderungen der Zeit angemessen ist oder nicht. Da kann man unterschiedlicher Meinung sein - und darüber kann man streiten, das ist das Wesen der Politik. Oder darüber, ob einzelne Personen im EU-Parlament überhaupt so ein Gewicht haben? Parlamentarische Arbeit ist ohnehin nie eine Einzelkämpferveranstaltung, sondern entfaltet erst im Verbund mit der Parteifamilie bzw. Fraktion ihre Stärke. Das geht in dieser aufgeheizten Debatte wohl etwas unter. Vielleicht sind wir - bei aller Liebe zum Format Person - unterwegs in Richtung einer eher voraufgeklärten und vormodernen Debatte, die die Person, die ein politisches Programm referiert und repräsentiert, mit diesem völlig identifiziert. Es geht schon auch um Systeme.

Die ganze Causa hat bereits ihre eigene Dynamik. Gibt es für die Grünen da derzeit noch einen würdevollen Ausweg?
In der Krisenkommunikation gibt es den Imperativ: Be prepared! Und eigentlich: Be prepared for the worst! Also sei stets auf das Schlimmste vorbereitet. Gute Krisenkommunikation beginnt nicht, wenn die Krise da ist, schon weit vorher. Damit, dass ich einen Plan B und C habe. Das funktioniert auch nicht immer, aber es ist jedenfalls besser als zu improvisieren.
Meine bescheidene Beobachtung ohne fundierte Evidenz ist, dass die Grünen diesen Grundsatz in ihrer Krisenkommunikation nicht in vollem Umfang verinnerlicht haben. Der pragmatische Aspekt ist: Die Wahllisten stehen, Schilling steht auf dem Stimmzettel. Damit ist das quasi gesetzt. Von der Kommunikation her wäre es jetzt nahezu unmöglich zu sagen, wählt Schilling, aber eigentlich bekommt man dann wen anderen. Das erhöht den Aktionsradius aber auch nicht gerade.