Die Turbulenzen beim Motorradhersteller KTM werden jetzt zum Problem für die Dachgesellschaft der Pierer-Gruppe, die Pierer Industrie AG. Die teilte am Montag mit, dass sie entschieden habe, ein europäisches Restrukturierungsverfahren nach der sogenannten Restrukturierungsverordnung einzuleiten. In einer Mitteilung erklärt die Pierer Industrie die Flucht unter diesen Schutzschirm damit, "dass bei Umsetzung der auf Ebene der KTM AG in Erwägung gezogenen Maßnahmen jedenfalls eine vorzeitige Fälligstellung der aushaftenden Kapitalbeträge folgender Finanzierungen der Pierer Industrie AG droht". Es geht konkret um drei Finanzierungsinstrumente: eine im Amtlichen Handel der Wiener Börse notierte Anleihe in Höhe von 100 Mill. Euro mit Laufzeit von 2020 bis 2028. Schuldscheindarlehen in Höhe von insgesamt 132,5 Mill. Euro (Laufzeiten: 2020-2025 sowie 2020-2026). Und drittens eine privat platzierte Anleihe im Nennbetrag von 15 Mill. Euro (2021-2033). Würden diese Finanzierungen vorzeitig fällig gestellt, hätte dies die Zahlungsunfähigkeit der Pierer Industrie AG zur Folge, teilt das Unternehmen weiter mit.
Pierer Industrie spricht von "richtiger Maßnahme"
Die Gesellschaft betont, dass vom Verfahren nur die Gläubiger der genannten Finanzierungsinstrumente betroffen sind. Alle übrigen Verbindlichkeiten würden vereinbarungsgemäß bedient, wird versichert. Pierer Industrie spricht von "der richtigen Maßnahme, um die Stabilität der Gruppe abzusichern und sie durch diese wirtschaftlich schwierigen Zeiten in eine gesicherte Zukunft zu führen".
Das Restrukturierungsverfahren sei notwendig, um das Kapital in voller Höhe zurückführen zu können, heißt es weiter von der Pierer Industrie AG. Es werde dabei zu keiner Kürzung von Zinszahlungen und Tilgungen kommen. Es gehe ausschließlich um ein Strecken von Fälligkeiten. Die Pierer Industrie betont, dass sie nicht überschuldet ist, auch nicht unter Berücksichtigung ihrer mittelbaren Beteiligung an der finanziell angeschlagenen KTM AG.
Eine Art Stillhalteabkommen mit den Gläubigern
Florian Beckermann, Chef des Interessensverbands für Anleger (IVA), meint zum Prozedere, dass es sich dabei um ein vorinsolvenzliches Verfahren handle, für das die EU gleiche Regeln und Richtlinien geschaffen habe. Es werde dabei in der Regel versucht, eine Art Stillhalteabkommen mit den Gläubigern zu erreichen und Insolvenzen zu verhindern. Die Pierer Holding sei mit diesem Schritt also nicht insolvent, sondern versuche vielmehr damit eine Insolvenz zu verhindern. Das Verfahren verdeutliche aber, wie ernst es um die Gruppe stehe. "Das Feuer auf dem Dach von KTM hat sich auf die Holding ausgeweitet." Tatsächlich hält die Pierer Holding 50,1 Prozent an Pierer Bajaj, jener Gesellschaft, der knapp drei Viertel der Anteile an Pierer Mobility sowie KTM gehören.
Kein gutes Signal für die KTM-Aktionäre
Zu den unmittelbaren Folgen meint Beckermann, das Restrukturierungsverfahren sei ein sehr schmerzhafter Schritt für Stefan Pierer, aber vorerst noch nicht das Problem der Aktionäre der KTM-Mutter Pierer Mobility. Denn ihre Wirkung ist auf Anleihen und Schuldverschreibungen beschränkt, die Pierer Industrie an der Börse und bei privaten Investoren begeben hat. Er räumt freilich auch ein, dass es kein gutes Signal für die KTM-Aktionäre sei, wenn ein Großaktionär zu wackeln beginne. Und die Kleinaktionäre haben im Lauf des vergangenen Jahres ohnehin schon sehr viel Geld verloren. Die Aktie von Pierer Mobility notierte Montagnachmittag knapp über 13 Euro. Im Lauf des vergangenen Jahres war sie am Höchststand über 60 Euro wert, was einem Wertverlust von über 80 Prozent entspricht.
Verunsicherung in Mattighofen ist groß
Die Nachricht vom Montag ist die nächste in einer Serie von Negativmeldungen. Zwar machten schon die Halbjahreszahlen von Pierer Mobility deutlich, dass der Zweiradhersteller heuer tief in die roten Zahlen rutscht und die Verschuldung rasant gestiegen ist, doch eine derartige Zuspitzung der Lage hatten die wenigsten erwartet. Seit Pierer Mobility vorige Woche bekannt gab, dass ein dreistelliger Millionenbetrag zur Überbrückung nötig ist, wurde aber deutlich, wie tiefgreifend die Probleme sind. Am Stammsitz in Mattighofen, wo KTM knapp 5000 Menschen beschäftigt, ist die Verunsicherung groß. Für Dienstag, 14 Uhr, ist die Belegschaft in der Zentrale zu einer Betriebsversammlung eingeladen, per Video wird die Versammlung an alle Standorte übertragen. Stefan Pierer selbst soll dort Rede und Antwort stehen.
Was kundgetan wird, darüber gebe es bislang keine Details, sagte Montagabend der oberösterreichische Pro-Ge-Chef Michael Seemayer. "Die Stimmung im Betrieb ist freilich alles andere als gut." Klar sei, dass die Beschäftigten eine Auftragslücke überbrücken könnten, nicht aber eine Finanzierungslücke, die offenbar ein Problem darstelle.
Produktionspause im Jänner und Februar
Im Jänner und Februar wird der Motorradhersteller - um die Lager zu leeren - die Produktion in Mattighofen komplett einstellen. 300 Mitarbeiter in der Fertigung verlieren ihren Job. Die restlichen 4700 KTM-Mitarbeiter wechseln für diese beiden Monate in Teilzeit. Sie arbeiten statt 38 nur 30 Wochenstunden, also über 20 Prozent weniger, und bekommen entsprechend weniger Gehalt. Die 1000 Mitarbeiter in der Produktion bleiben trotz Bezahlung zu Hause.
Ein europäisches Verfahren
Das Europäische Reorganisationsverfahren (ReO) wurde mit Juli 2021 in Österreich umgesetzt. Das Verfahren ist einer Insolvenz vorgeschaltet und soll Gläubiger zum Stillhalten und Strecken von Fälligkeiten bringen. Bisher gab es hierzulande noch kein solches öffentliches Verfahren, heißt es vonseiten der Gläubigerschützer von Creditreform und KSV - anders als etwa in den Niederlanden, Frankreich oder auch in Deutschland.
Voraussetzung für ein ReO ist eine Bestandsgefährdung des Unternehmens, sagt Creditreform-Geschäftsführer Gerhard Weinhofer. Laut dem Unternehmensreorganisationsgesetz (URG) wäre das der Fall, wenn die Eigenmittelquote unter acht Prozent beträgt und die fiktive Schuldentilgungsdauer mehr als 15 Jahre. Der Vorteil dieses Verfahrens: Es ist europaweit anerkannt und es kann mit "Mehrheiten" gearbeitet werden, sagt Karl-Heinz Götze, Insolvenzexperte des KSV, es können also Gläubiger überstimmt werden.
Ab Eröffnung des Reorganisationsverfahrens durch das zuständige Landesgericht, das in dem Fall eine "Überwachungsfunktion" hat, aber weniger Eingriffsrechte als in einem herkömmlichen Insolvenzverfahren, läuft eine Frist von drei Monaten, die für Verhandlungen mit der betroffenen Gläubigergruppe über den Restrukturierungsplan genutzt werden kann. Maximal darf die Frist allerdings sechs Monate betragen.