Im Februar 2022 kündigte Arbeitsminister Martin Kocher an, die Arbeitslosenversicherung reformieren zu wollen. Nur zehn Monate später musste er das Vorhaben ad acta legen, weil die Grünen die Pläne nicht mittrugen. Bundeskanzler Karl Nehammer hat das Thema in seinem Österreich-Plan nun wiederbelebt - mit der plakativen Ankündigung, das Arbeitslosengeld auf unter 50 Prozent zu kürzen und damit eine Senkung der Lohnnebenkosten um 0,5 Prozentpunkte pro Jahr bis 2030 zu finanzieren.
Der Aufschrei war programmiert, zumal die ÖVP offenließ, wie hoch die Nettoersatzrate am Beginn der Arbeitslosigkeit sein sollte. Zudem soll es nicht mehr möglich sein, das Arbeitslosengeld durch eine geringfügige Beschäftigung aufzubessern. Damit will man erreichen, dass arbeitslose Personen früher einen Job annehmen, vorzugsweise im Ausmaß einer Vollbeschäftigung, weil in der Wirtschaft Hunderttausende Arbeits- und Fachkräfte fehlen.
Kann das so funktionieren? Nein, sagen Kritiker, die schon Kochers Modell, das zu Beginn zudem eine Wartezeit von sieben bis zehn Tagen vorsah, ablehnten. Da werde an den falschen Hebeln gezogen. Das linke Momentum-Institut rechnet vor, dass eine Nettoersatzrate von unter 50 Prozent elf Prozent weniger Arbeitslosengeld pro Monat bedeuten würde. Arbeitslose zählten ohnehin bereits zu den großen Verlierern durch die hohe Inflation, weil Arbeitslosengeld und Notstandshilfe im Gegensatz zu den meisten Sozialleistungen mit Anfang 2023 nicht valorisiert wurden. Dem steht der positive Effekt der hohen Lohnabschlüsse gegenüber, womit sich auch das Arbeitslosengeld erhöht.
Abgesehen davon ist der Effekt von Änderungen der Parameter in der Arbeitslosenversicherung unter Experten umstritten. Das zeigt auch die von Kocher in Auftrag gegebene Studie "Anreizwirkungen ausgewählter Elemente im System der österreichischen Arbeitslosenversicherung" des Instituts für Wirtschaftsforschung (Wifo) vom September 2022. Dabei ging man von einem degressiven Arbeitslosengeld aus, bei dem die Nettoersatzrate in den ersten acht Wochen auf 65 Prozent steigt, dann würde sie acht Wochen lang auf 55 Prozent und danach auf 50 Prozent gesenkt. Ein Zuverdienst wäre in dem Modell nicht mehr vorgesehen, dafür wird eine bessere Betreuung seitens des AMS simuliert. Das degressive Arbeitslosengeld würde den Bestand an Arbeitslosen um 3400 Personen im Jahr reduzieren. Sollte die höhere Nettoersatzrate den Zugang attraktiver machen, würde der Effekt der Degression laut Wifo konterkariert, der Bestand würde dann nur um 500 Personen pro Jahr sinken.
Änderungen beim Zuverdienst hätten dagegen laut Wifo das Potenzial, die Arbeitslosigkeit zu senken, um 15.600 Personen pro Jahr. Dabei sei zu bedenken, dass der Zuverdienst gerade für Langzeitarbeitslose oft wichtig für eine Reintegration in den Arbeitsmarkt sei. Mit Streichen des Zuverdiensts könnte auch die informelle Beschäftigung steigen. Die bessere Kontrollierbarkeit, ob ein regulärer Zuverdienst informell aufgebessert wird, könnte aber dazu führen, dass auch Betriebe, die stark auf geringfügig Beschäftigte setzen, ihre Personalpolitik ändern müssten. Den stärksten positiven Effekt hätte laut Studie die bessere Betreuung von Arbeitslosen mit einem höheren Personalschlüssel beim AMS. Damit ließe sich der Jahresdurchschnittsbestand arbeitsloser Personen um 22.800 oder 7,5 Prozent senken, schrieben die Expertinnen und Experten des Wifo in ihrem Abschlussbericht.
Budgetär würde ein degressives Arbeitslosengeld relativ neutral oder leicht erhöhend wirken, heißt es in der Wifo-Studie, ein Wegfall des Zuverdiensts würde die Ausgaben für Arbeitslosengeld und Notstandshilfe um rund fünf Prozent oder 165 Mill. Euro reduzieren.
International liegt Österreich mit der Nettoersatzrate von 55 Prozent hinter vielen anderen Industrieländern. Der Vergleich ist aber schwierig und hängt unter anderem davon ab, welcher Zeitraum betrachtet wird oder ob weitere Unterstützungsleistungen in den Vergleich einbezogen werden, beispielsweise für Kinder.
Wie man den Arbeitsmarkt reformieren soll, ist politisch umstritten. Klar ist nur, dass angesichts der Demografie das Potenzial der Arbeitslosen besser genutzt werden muss.