Die Philosophin, Historikerin und Publizistin Hannah Arendt suchte nach der "Banalität des Bösen". In Österreich ist das Böse in der Banalität zu finden. Ein Wiener Boulevardblatt hat kürzlich herausgefunden, dass drei Schriftstellerinnen mithilfe eines Stipendiums des Kulturministeriums in Marokko weilten. Was sie dort literarisch produzierten, missfiel dem Blatt. Woraufhin die Sittenwächter des Blattes eine der drei Autorinnen, die es ihnen besonders angetan hatte, dem gesunden Volksempfinden zum Fraß vorwarfen: "Made im Speck", "Fäkal-Autorin", "Sauf- und Kiffurlaub", "schreiberischer Schrott" - so lauteten die Hetz-Urteile des Blattes über die schreibende Dame.
Das gesunde Volksempfinden, das sich heutzutage vor allem in sogenannten sozialen Medien tummelt, nahm das Geheul willig auf und stimmte darin ein. "Warum werden solche Volksverräter nicht an die Wand gestellt? Wär ein guter Henker!", geiferte es da. Und: "Frustrierte Emanzen. Die gehören in eine Grube geschmissen mit lauter Vergewaltigern." Solches und Ähnliches konnte man im Netz lesen als pawlowschen Reflex auf die mediale Hetzkampagne besagter Boulevardzeitung. Man blickte in einen Abgrund, den besagtes Blatt absichtsvoll aufgerissen hatte.
So weit, so böse, so banal - und ein weiterer Beleg dafür, dass mediale Hetze in der heutigen digitalen Welt ganz automatisch umschlägt in eine elektronische Pogromstimmung, die das Unterste im Menschen nach oben kehrt und bei der eigentlich nur noch die brennenden Scheiterhaufen fehlen. Diese Orgie des schlechten Journalismus ist im Übrigen ein Argument dafür, dass qualitätsvoller Journalismus heute wichtiger ist denn je. Also Journalismus, der das Gegenteil dessen macht, was zu Beginn dieser Zeilen geschildert wurde. Angesichts einer Welt, in der die Menschen mit digitalen Reizen und Info-Happen förmlich überschwemmt werden, muss es Profis geben, die Wichtiges von Unwichtigem, Wahres von Falschem, Sinniges von Unsinnigem scheiden. Die Welt braucht Journalisten, die ihren Job machen. Die analysieren und kommentieren, statt zur Hexenjagd zu blasen. Und vor allem: die ihr Mäntelchen nicht nach dem Shit storm hängen, den sie selbst ausgelöst haben. Die zum virtuellen Scheiterhaufen nicht auch noch den Benzinkanister liefern.
Es sei nicht verschwiegen, dass der Journalismus oft genug an diesem Grunderfordernis scheitert. Statt eine Mauer der Vernunft zwischen der realen Welt der Fakten und der virtuellen Welt des Unfugs zu errichten, öffnet der Journalismus mitunter dem Unfug noch das Fenster. Um ein aktuelles und eher harmloses Beispiel anzuführen: Unlängst kursierte im weltweiten Netz ein Foto, das eine Medienberaterin von US-Präsident Donald Trump zeigte, wie sie mit den Schuhen auf einem Sofa im Weißen Haus lümmelte. Mag es auch ein teures Sofa mit einem wertvollen Sitzbezug gewesen sein - es handelte sich um ein Vorkommnis von monströser Bedeutungslosigkeit, ein Nicht-Ereignis, keine Zeile Berichterstattung wert. Dessen ungeachtet erhob sich ein Shit storm von Orkanstärke, und die Gehässigkeit, die sich weltweit aus den sogenannten sozialen Netzen über die Präsidentenberaterin ergoss, war ein neuerliches Indiz dafür, dass die sogenannten sozialen Medien sich restlos von der Wirklichkeit abgekoppelt haben. Was für ein Glück, dass es noch richtige Medien gibt, die über richtige Ereignisse berichten!
Doch leider. Es stellte sich heraus, dass auch die richtigen Medien jedes Maß verloren hatten. Sie berichteten in Wort und Bild über die Schuhe und das Sofa. Die Nicht-Story war für die richtigen Medien zur Story geworden. Und zwar ausschließlich deshalb, weil sie von den sogenannten sozialen Medien zu einer solchen hochgehechelt worden war. Die richtigen Medien haben die Nase nicht nur in den Wind gehalten, sie haben sie in den Shitstorm gesteckt.
Richtige Medien, die den sozialen Medien hinterherhecheln, statt deren Inhalte einem strengen Fakten- und Relevanzcheck zu unterziehen, haben ihre Aufgaben verfehlt. Ebenso wie Medien, die Hetzkampagnen gegen Künstler, Autorinnen und Ausländer führen, oder gegen sonstige Gruppen, die sich als Auslöser für eine mediale Massenpsychose eignen. Wäre eine Unterscheidung dieser beiden Arten von Journalismus nicht ein guter Ansatz für die derzeit geplante Reform der Presseförderung?