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Die Demokratie und ihr Gegenteil

Wenn eine selbsternannte Mini-Elite Entscheidungen für ein ganzes Land trifft: Ist das tatsächlich demokratisch? Ein Plädoyer gegen Mitgliederbefragungen.

Andreas Koller

Die Demokratie geht seltsame Wege. In Wien haben kürzlich gezählt 685 eingeschriebene Mitglieder der Grünen eine Urabstimmung über ein Hochhausprojekt abgehalten. 51,33 Prozent dieser nicht allzu eindrucksvollen Gesamtmenge votierten gegen das Hochhaus. Das war ein Überhang von 18 Stimmen an Hochhausgegnern. Es lebe die Basisdemokratie! Doch ist es wirklich demokratisch, wenn anderthalb Dutzend grüne Parteimitglieder einer Beinahe-zwei-Millionen-Stadt ihren Willen aufzwingen? Interessanterweise beantwortete Wiens grüne Parteichefin und Planungsstadt rätin Maria Vassilakou diese Frage mit Nein. Sie ignorierte - unter flagranter Verletzung
des grünen Parteistatuts - das Votum ihrer Mitglieder und setzte im Gemeinderat einen Beschluss für das Hochhaus durch.

Nicht viel anders verhielt es sich vergangenes Jahr, als SPÖ-Chef Christian Kern eine Befragung unter den SPÖ-Mitgliedern über das EU-Kanada-Handelsabkommen CETA abhielt. Die Befragung ging mit einer 88-prozentigen Mehrheit klar gegen CETA aus. Allerdings hatten nur rund 14.400 der rund 200.000 SPÖ-Mitglieder daran teilgenommen. Weiters auch 9300 Nicht-SPÖ-Mitglieder. Es lebe die Basisdemokratie! Doch ist es wirklich demokratisch, wenn ein paar Tausend SPÖ-Mitglieder sowie einige Nichtmitglieder, die sich auf die SPÖ-Homepage verirrt haben, die Politik eines Acht-Millionen-Volks bestimmen? SPÖ-Chef Kern beantwortete die Frage mit Nein und legte der Unterzeichnung des CETA-Abkommens durch die EU keinen Stein in den Weg.

Urabstimmungen unter Parteimitgliedern scheinen also kein wirklich probates Mittel zur politischen Willensbildung zu sein. Dessen ungeachtet erfreut sich dieses nicht wirklich probate Mittel zunehmender Beliebtheit. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, werden die SPÖ-Mitglieder demnächst darüber urabstimmen, ob ihre Partei eine Koalition mit der FPÖ eingehen darf oder nicht. Strittig in der Partei ist nur die Frage, ob diese Befragung vor oder nach der Wahl erfolgen soll. Etliche Stimmen, vor allem in der Parteijugend, fordern gar, jeglichen Koalitionspakt, den die SPÖ zu unterzeichnen gedenkt, einer Urabstimmung zu unterziehen. So, wie auch vor vier Jahren in Deutschland die SPD ihre Mitglieder über die Wiederaufnahme der Koalition mit der CDU/CSU befragte.

Die bevorstehende Mitgliederbefragung der SPÖ über ihren künftigen Regierungskurs weist denselben Konstruktionsfehler auf wie die Befragung der Wiener Grünen über das Hochhaus und die seinerzeitige Befragung der SPÖ über CETA: Hier bestimmt ein viel zu kleiner Anteil an Abstimmungsberechtigten über die Dinge, die alle betreffen - auch jene überwiegende Mehrzahl an Menschen, die nicht abstimmungsberechtigt sind. Es handelt sich hier also nicht, wie die Verfechter derartiger Abstimmungen glauben, um Demokratie, sondern um das glatte Gegenteil davon. Eine kleine Elite an Parteimitgliedern maßt sich das Recht an, Dinge allgemeinpolitischer Natur zu entscheiden, von der Stadtplanung bis zur Zusammensetzung der Bundesregierung. Dabei glaubte man, dass diese Form der Meinungsfindung seit der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts vorbei sei.

Wirklich demokratisch wäre es, würden die dazu befugten SPÖ-Gremien vor der kommenden Wahl kundtun, wer als Koalitionspartner akzeptabel ist und wer nicht - und die Entscheidung, ob es zu dieser Koalition kommt, der Gesamtheit der Wählerinnen und Wähler überlassen. Diese könnten, je nach politischer Koalitionsvorliebe, dann die SPÖ wählen. Oder eben nicht.

Ähnliches gilt für die seinerzeitige SPÖ-Mitgliederbefragung über CETA: Wenn schon basisdemokratisch über ein solches Vertragswerk entschieden werden soll (was im Übrigen keine sehr gute Idee ist), dann bitte alle Österreicherinnen und Österreicher befragen. Und nicht nur jene mit SPÖ-Mitgliedsausweis.

Ähnliches gilt für die Wiener Grünen. Eine Zufallsmehrheit von 18 grünen Parteimitgliedern ist keine taugliche Grundlage für demokratische Entscheidungen. Wirklich demokratisch wäre es gewesen, nicht nur die paar Hundert eingeschriebenen Wiener Grün-Mitglieder, sondern alle Wiener zurate zu ziehen, und zwar in Form einer Volksbefragung.

Oder noch besser: Die Politiker tun das, wofür sie bezahlt werden: nämlich entscheiden. Und bei der nächsten Wahl für die getroffenen Entscheidungen einstehen.