Die Europäische Union hat wieder einmal eine schlechte Nachrede. Und zwar nicht nur im Vereinigten Königreich, wo die Volksabstimmung über den Brexit naht und die Befürworter des EU-Austritts mit absurden Legenden über die Macht des Bösen, nämlich Brüssel, nicht geizen. Sondern auch in Österreich, wo vor allem der freiheitliche Präsidentschaftsbewerber allerlei Populistisches gegen die Union ins Treffen zu führen wusste. Dass die EU nebstbei auch noch an TTIP und Glyphosat und sämtlichen sonstigen von den Boulevardmedien als Teufelszeug entlarvten neumodischen Undingen die Schuld trägt, versteht sich von selbst. Zumindest für die Boulevardmedien, die dies täglich trommeln. Es ist derzeit nicht leicht, für die EU zu sein.
Daran ist freilich nicht zuletzt die EU selbst schuld, die es zwar nicht schafft, die großen Probleme der Zeit zu lösen, sich dafür aber umso emsiger in unnötigem Klein-Klein verliert. Der jüngste diesbezügliche Meilenstein bestand in der EU-Richtlinie für Tabakerzeugnisse, die den Rauchwarenherstellern vorschreibt, abschreckende Bilder von Raucherlungen und ähnlichen appetitlichen Körperteilen auf die Zigarettenpackungen zu applizieren. Man mag diesen Ausfluss einer schwarzen Pädagogik für sinnvoll halten oder nicht, doch man fragt sich, warum es zur Durchsetzung einer derartig läppischen Regelung der geballten Anstrengung Europas bedarf. Und warum nicht vielmehr jedes EU-Land eigenständig entscheiden darf, ob es hässliche Bildchen auf die Zigarettenschachteln druckt oder ob es dies lieber bleiben lässt. Wo ist eigentlich das Subsidiaritätsprinzip geblieben? Also jenes heilige, in jeder besseren Sonntagsrede beschworene Prinzip, wonach Entscheidungen, wenn irgend möglich, in der kleinsten, untersten politischen Einheit fallen sollen? Wenn sogar Zigarettenbildchen zur Chefsache werden, ist von der Subsidiarität nicht einmal mehr ein Restbestand vorhanden.
Die Union verspielt jeden Kredit, wenn sie sich zwar um Fotos auf Zigarettenpäckchen, Allergiekennzeichnungen auf Speisekarten und Glühbirnen kümmert, beim drängenden Problem der Migration aber die Nationalstaaten alleinlässt. Gerade in diesen Tagen wird dies wieder schmerzlich bewusst. Es ist an Zynismus nicht zu überbieten, dass ein Kontinent, der vor Kurzem noch Grenzkontrollen für einen flagranten Anschlag auf die Menschenrechte hielt, nunmehr nichts dabei findet, die Arbeit der Migrantenabwehr an den Dreivierteldespoten Erdoğan zu delegieren. Es ist an Zynismus nicht zu überbieten, dass zwar beispielsweise in Österreich die Rückstellung von Migranten nach Ungarn und Griechenland nicht statthaft ist, weil die Asylbewerber dort offenkundig nicht anständig untergebracht werden, dass aber die Rückstellung von Migranten von Griechenland in die Türkei als europapolitischer Geniestreich gilt. Was sich hier als "Migrationspolitik" tarnt, ist in Wahrheit eine Mischung aus europaweiter Unverfrorenheit und Hilflosigkeit.
Es ist das Drama der Union, dass sie stets nur dort sichtbar wird, wo sie nicht funktioniert, wie in der Migrationspolitik. Sie ist auch dort sichtbar, wo sie in eine ungezügelte Regelungswut verfällt, wie bei den Zigarettenbildern. Sie ist aber dort nicht sichtbar, wo sie in positiver Weise in unser Leben eingreift und dieses verbessert. Denn all das wird nicht der europäischen Integration als Gutpunkt verbucht, sondern weithin als Selbstverständlichkeit betrachtet: Die Wirtschaftsbelebung durch die Schaffung eines großen Marktes ohne Barrieren und Zölle. Die Zigtausenden Arbeitsplätze, die durch die Belebung der Exportwirtschaft geschaffen wurden. Die Niederlassungsfreiheit, die jedem europäischen Bürger mehr Lebenschancen gibt. Die Förderströme, die zur Belebung unterentwickelter Landschaften (auch in Österreich!) geführt haben. Der Euro, der - trotz allem - eine stabile Währung ist. Die Reisefreiheit, die durch die gegenwärtigen punktuellen Passkontrollen nicht wirklich eingeschränkt ist.
Und, am wichtigsten: Die Verwandlung eines seit Jahrhunderten von mörderischen Kriegen zerrissenen Kontinents in die friedlichste Weltregion der Geschichte.
All das ist mit Zigarettenbildchen nicht zu teuer erkauft. Man nimmt für diese Errungenschaften sogar das Chaos in der Migrationspolitik hin. Man würde sich nur wünschen, dass die maßgeblichen Akteure der Union auch in der Tagespolitik die richtigen Akzente setzen.

