Christian Kern hat, was von ihm auch nicht anders zu erwarten war, sein neues Leben als Bundeskanzler mit starken Sprüchen eingeläutet. Wie schon vor sechs Jahren, als er seinen Amtsantritt als ÖBB-Generaldirektor mit einer eindrucksvollen Fehleranalyse des staatlichen Fuhrunternehmens verband, ließ er auch bei seinem nunmehrigen Amtsantritt als Generaldirektor für ganz Österreich kein Problemfeld unbeackert. Er kritisierte den Umstand, dass die österreichischen Arbeitnehmer seit Jahren mit Reallohnverlusten leben müssten. Er geißelte die Konsum- und Investitionsschwäche in unserem Land. Er sagte, dass Österreichs Politik "in vielen Punkten die Spielregeln ändern" müsse. Er stellte fest, dass man "mit den Produktionsmodellen der vergangenen Jahre" die Zukunft nicht gestalten könne. Er sagte, dass wir uns vor der Globalisierung und der Digitalisierung nicht verstecken dürften.
Und er hatte mit all diesen Anmerkungen recht.
Beim Unternehmen ÖBB hat Christian Kern, sagen Bahn-Kenner, einiges zum Besseren gewendet. Beim Unternehmen Österreich wird er sich schwerer tun. Denn bei den ÖBB konnte der damalige Generaldirektor seinen Wünschen mit Anordnungen zum Durchbruch verhelfen, er war niemandem Rechenschaft schuldig als dem Aufsichtsrat. In der Politik hingegen kann Kern keine Befehle erteilen. Er ist auf seine (zugegebenermaßen überreich vorhandene) Überzeugungskraft angewiesen. Und er ist allen möglichen Leuten Rechenschaft schuldig: Den Mitgliedern seines Parteivorstands, die ihn jederzeit stolpern lassen können, wie sie auch schon die beiden Vorgänger Kerns stolpern ließen. Dem SPÖ-Bundesparteitag, der ihn - wie es vor ihm Faymann widerfuhr - mit einem blamabel schlechten Ergebnis bei der Vorsitzendenwahl abstrafen kann. Den Kritikern am linken Rand der Partei, die zwar locker jede Volkswahl verlieren würden, dem jeweiligen Parteichef und Kanzler aber mit der Selbstsicher- und -zufriedenheit der moralisch Überlegenen gegenübertreten. Den Gewerkschaftern, die unverdrossen eine sechste Urlaubswoche und eine Überstundensteuer fordern. Und dem Koalitionspartner, der Kern jederzeit auflaufen lassen kann.
Alles deutet darauf hin, dass Christian Kern seine Reformagenda tatsächlich in Taten umsetzen will. Und alles deutet darauf hin, dass das schwierig wird. In Österreich ist eine viel zu große Anzahl an Menschen damit beschäftigt, Wertschöpfung, Steueraufkommen, Arbeitsplätze, Aufbruch zu verhindern, statt zu ermöglichen. Wir leben in einem Land, in dem ruinöse Strafen verhängt werden, wenn sich ein Lebensmittelhändler erfrecht, am Feiertag seine Geschäfte aufzusperren. Oder wenn ein Betrieb es verabsäumt, die Von-bis-Arbeitszeiten seiner Dienstnehmer auf sämtlichen dafür vorgesehenen Zetteln und Listen einzutragen, selbst in Branchen, in denen Von-bis-Arbeitszeiten gar nicht möglich sind. Wir leben in einem Land, in dem die Gewerkschaft bezahlte Spitzel aussendet, um zu erkunden, ob am Sonntag die Geschäfte auch ja geschlossen bleiben und auch ja keinen Umsatz erwirtschaften, keine Menschen beschäftigen, keine Steuern zahlen. Wir leben in einem Land, in dem die Bahnhofsbuchhandlungen (und nur diese) zwar am Sonntag aufsperren dürfen, einen Teil ihrer Verkaufsfläche aber vor den zahlenden Kunden verbarrikadieren müssen. Wir leben in einem Land, in dem Industriebetriebe mit jahrelangen Genehmigungsverfahren gequält werden, während man ihnen etwa in Texas den roten Teppich ausrollt, wie zuletzt voestalpine-Chef Wolfgang Eder plastisch schilderte. Wir leben in einem Land, in dem die Politik die Achseln zuckt, wenn ein Konzernchef wie Eder in Erwägung zieht, den Standort Österreich langfristig aufzugeben. Wir leben in einem Land, in dem die Frage, ob in der Wiener Innenstadt Schanigärten ganzjährig erlaubt sein sollen, diskutiert wird, als ginge es um Leben und Tod. Wir leben in einem Land, in dem sich viele Menschen den Kopf zerbrechen über die Umverteilung des Wohlstands und nur wenige über die Mehrung des Wohlstands. Wir leben in einem Land, das sich nicht über Nacht geändert hat, nur weil es über Nacht einen neuen Bundeskanzler bekam.
Christian Kern wird all sein Talent brauchen, all das, was er so richtig erkannt und benannt hat, in konkrete Politik umzuwandeln.


