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Kaffeesudlesen im Wahlkampf

Auch wenn manche Blätter und Meinungsforscher das Gegenteil behaupten: Wir haben keinen blassen Schimmer, wie die herbstliche Nationalratswahl ausgeht.

Andreas Koller

Wer hätte das gedacht? Sämtliche Meinungsumfragen haben dem neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron bei der gestern abgeschlossenen Parlamentswahl einen Sieg vorausgesagt - und er hat diesen Sieg tatsächlich errungen. Das ist eine kleine Sensation. Denn seit geraumer Zeit gehört es fast schon zum guten Ton, dass Wahlen und Abstimmungen ganz anders ausgehen als vorausgesagt.
Es wird immer schwieriger, das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger annähernd präzise zu prognostizieren. Dies nicht, weil die Prognostiker und ihre Methoden schlechter geworden wären. Sondern weil die Wählerschaft so beweglich geworden ist, dass die Voraussage eines Wahlausgangs dem Versuch gleicht, das Wetter in 14 Tagen vorauszusagen. Oder die Lottozahlen.

Dies sah man unter anderem bei der österreichischen Bundespräsidentschaftswahl im vergangenen Jahr, zu deren erstem Durchgang im April, wie erinnerlich, sechs Kandidaten angetreten sind. Eine Woche vor dieser Wahl weissagten Umfrageinstitute (Namen seien gnädig verschwiegen) und Zeitungen (Namen seien gnädig verschwiegen) einen Zweikampf um den Einzug in die Stichwahl. Eine Zeitung beziehungsweise das für diese prognostizierende Institut sah Alexander Van der Bellen bei 25 Prozent und Norbert Hofer bei 24 Prozent. Eine andere Zeitung beziehungsweise ein anderes Institut weissagte 26 Prozent für Van der Bellen und 24 Prozent für Hofer. Beiden Umfragen gemeinsam war also, dass Alexander Van der Bellen an der Spitze lag.

Gekommen ist es ganz anders. Hofer landete mit 35 Prozent unangefochten auf Platz eins, er erhielt also um fast 50 Prozent mehr Stimmen als vorausgesagt. Nur 21,3 Prozent votierten für Van der Bellen. Seinen Siegeszug trat der von den Grünen unterstützte unabhängige Kandidat erst im zweiten Wahlgang an, als sich das gesamte nicht freiheitliche Österreich in seinem Lager versammelte. Beim ersten Durchgang hingegen hatten sich die hauptamtlichen Kaffeesudleser mehr als nur geringfügig verschätzt. Ebenso, wie sie sich bei Trump ("Wird niemals republikanischer Kandidat", später dann: "Wird niemals US-Präsident") verschätzt hatten. Und bei der Brexit-Volksabstimmung ("Wird niemals eine Mehrheit bekommen"). Und bei der jüngsten britischen Unterhauswahl ("Ein Erdrutschsieg Theresa Mays steht praktisch fest").

Dessen ungeachtet sind als Präludium zu der herbstlichen Nationalratswahl die Kaffeesud leser, die aus Schaden offenbar nicht klug werden, bereits emsig am Werk. "Die Partei von ÖVP-Chef Sebastian Kurz liegt in der Wählergunst weiterhin weit vor der Konkurrenz", meldete dieser Tage ein Blatt (Namen seien gnädig verschwiegen). Demnach komme - so dieses Blatt weiter - die ÖVP "derzeit" auf
33 Prozent, die FPÖ auf 26 Prozent, die SPÖ auf 22 Prozent. Alles klar?

Leider nein. Wer sich die Diskrepanz zwischen Umfragen und Wahlergebnis beim ersten Durchgang der Bundespräsidentschaftswahl vor Augen führt oder auch die Erdrutsche in der britischen Wählerlandschaft in den Wochen vor der Unterhauswahl oder auch den Umstand, dass in Frankreich jetzt eine Partei regiert, die es vor Kurzem noch gar nicht gegeben hat, der erkennt: Voraussagen sind nichts wert. Mit einiger Sicherheit lässt sich allenfalls prognostizieren, dass die Neos keine absolute Mehrheit kriegen werden. Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert.

Die Unberechenbarkeit der Wählerschaft macht die Wahlen nicht nur spannend für die Wähler, sondern auch für die jeweiligen Spitzenkandidaten. Christian Kern und Sebastian Kurz müssen ein hohes Risiko eingehen - ein weit höheres Risiko jedenfalls als jeder ihrer Vorgänger. Kern entsorgte spektakulär die Vranitzky-Doktrin und öffnete seine Partei den Freiheitlichen. Wenn sein Kalkül danebengeht, wird er möglicherweise nicht mehr lange an der Spitze der SPÖ stehen. Gleiches gilt für Sebastian Kurz. Er provozierte Neuwahlen und sicherte sich vollen Zugriff auf die ÖVP. Wenn sein Kalkül danebengeht, wird er möglicherweise der kürzestdienende ÖVP-Obmann der Geschichte gewesen sein. Weder Kern noch Kurz wird eine Wahlniederlage von ihren Parteien verziehen werden.

Das hohe Risiko, das die beiden Herren eingehen, birgt natürlich auch hohe Chancen. Wenn Kern seiner Partei den Kanzlersessel erhält, wird er als größerer SPÖ-Vorsitzender in die Geschichte eingehen als die meisten seiner Vorgänger. Wenn Kurz seiner Partei den Kanzlersessel bringt, wird sie ihm dauerhaftere Kränze der Dankbarkeit flechten als jedem seiner Vorgänger.

Und Strache? Sollte er im Dreikampf der Alphamänner unter die Räder geraten, könnte seine Partei allmählich auf die Idee kommen, dass ihr ihr langjähriger Obmann mehr schadet als nützt.

Und die Grünen? Könnten davon profitieren, dass sie die einzige Partei weit und breit sind, die sich links der Mitte positioniert.

Und die Neos? Angesichts dieser Frage versagt der schönste Kaffeesud.