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Ich spüre die Nähe des Krieges

6 Uhr in der Früh gibt es Explosionen. Vier gewaltige Booms nacheinander. Lemberg ist damit keine friedliche Stadt mehr, sondern wird ganz langsam zu einem gefährlichen Ort. Ich spüre die Nähe des Krieges und bin irritiert.

Daryna Melashenko

Mein Freund ist auch schon wach und sitzt auf seinem Bett. Er sagt ruhig: "Ich glaube, es wird keine mehr geben. Aber es ist besser, wenn wir bereit sind, auf die Straße zu gehen." Seine immerwährende Ruhe verleiht mir Sicherheit.


Ich stehe schnell auf und ziehe mir schwarze Jeans und einen warmen Pulli an. Wir gehen in die Küche und trinken Wasser. Es explodiert nichts mehr. Ich komme zum Fenster. Interessant, ob ich etwas sehen kann. Ob es schwarzen Rauch gibt, nach dem ich auch am ersten Kriegstag gesucht hatte. Ich kann nichts Derartiges sehen. Nur den Sonnenaufgang. Die Märzsonne wächst über die Stadt wie eine blutige Blume. Ich mache ein Foto.


"Komm, weg von dem Fenster. Hast du gehört, wie es zittert?" In meinem Haus sind alle Fenster mit Klebeband verklebt. Hier noch nicht. Ich denke daran, was wir tun könnten, wenn die Fenster plötzlich durch eine Explosionswelle zerstört werden. Gibt es überhaupt eine technische Lösung für solche Fälle? Oder müssen wir gleich umziehen? Ich stell mir vor, wie die leichten Gardinen im Wind schweben und wie Vögel das leere Schlafzimmer durchfliegen.


Nach einer Weile schaue ich doch vorsichtig aus dem Fenster. Ganz unten auf einem zu diesem Stockwerkhaus zugehörigen Spielplatz spielen einige Kinder. Ich kann ihr Spiel schnell nachvollziehen. Auch zu Hause habe ich schon gesehen, wie zwei kleine Buben im Nachbarhof Barrikaden bauten und einander mit imaginärer Waffe beschossen, also praktisch Krieg spielten. Dieses Spiel hier ist eher symbolisch und sehr fantasievoll. Ein Kind ist die Sirene. Ab und zu signalisiert es die kommende Gefahr mit gedehnten fallenden und steigenden Tönen. Die restlichen Kinder laufen sofort in den "Keller" (Sandkasten), um sich zu retten. Wer als Letzter kommt, hat verloren.


Ich denke wieder an die Explosionen. Dasselbe alte Kopfkino schaltet sich wieder ein. Eine spitznasige Rakete, die aus weiter Ferne durch die Wolken ganz schnell herfliegt und mein Zimmer trifft. Ich kann beinahe hören, wie die heiße Luft um sie herum summt. Mit dieser wiederkehrenden Vision muss ich etwas anfangen.


Ich öffne das Zeichenprogramm "Paint" und male das Haus, in dem ich wohne, mich selbst auf dem Balkon und dann noch eine Rakete, die ganz nahe ist und jede Sekunde mich treffen soll. Es tut gut, die Situation aus dem Kopf auf meine digitale Leinwand übertragen zu haben. Ich sehe mir das Bild wenige Sekunden an, als ob ich eine Kunstkritikerin wäre. Hier fehlt etwas. Ich male noch einen großen fetten Kreis um mich herum, so etwas wie eine Aura. Ich wehre mich gegen die Rakete. Sie prallt ab und fliegt zurück, um ihre ursprüngliche Flugbahn zu wiederholen. Für die ganze Flugbahn reicht mir die Leinwand nicht. Aber ich nehme an, sie trifft den, der sie gelauncht hat.


Vor zwei Jahren übersetzte ich zwei Auszüge aus einem Roman von Paulus Hochgatterer, die u. a. von Kriegsopfern handelten. Mir fallen die Worte einer seiner Heldinnen ein: "Ich glaube, in meinem Kopf ist alles weggebombt." Jetzt weiß ich, wie das sich anfühlt.

Daryna Melashenko, 26 Jahre, ist von Bojarka bei Kiew nach Lemberg geflohen.