Den Wochenrhythmus bemerke ich nur durch meine europäischen Freunde. Am Wochenende antwortet man schnell, am Arbeitstag dauert es etwas länger. Ich schaue nicht in den Kalender: Die Frage "Der wievielte ist heute?" ist irgendwie überhaupt nicht aktuell. Es ist Frühling, und es ist der 13. Kriegstag.
Wir haben genug zu essen, aber es ist ein bisschen seltsam geworden. Die Lebensmittel, die wir normalerweise kaufen, sind nirgendwo mehr zu finden oder man schnappt sie gleich von den Regalen weg. Statt des Vollkornbrots gibt es zum Beispiel ein ganz einfaches Brot, das man in der Sowjetunion "Ziegelchen" nannte. Das Ziegelchen ist grau-gelb und hat einen milden, neutralen Geschmack. So etwas isst man bei uns regelmäßig nur in weit entfernten Dörfern, wo es keine modernen Bäckereien gibt. Auf dem Markt in meiner Nähe kann man auch frisches Weizenbrot kaufen. Schön, dass es überhaupt noch Brot gibt.
In einem kleinen Café in der Nähe wird noch gebacken. Die Café-Besitzerin ist eine ehemalige Schulkollegin. Sie macht sehr gute Macarons. Es ist merkwürdig, dass wir jetzt Macarons kaufen können, aber keine normalen Lebensmittel wie Milch oder Eier.
Die Preise sind kaum gestiegen. Vielleicht nur in einzelnen Privatgeschäften, die noch offen haben. In Kyjiw kommt dagegen so was schon vor. Während ich Nachrichten ins Deutsche für eine Twitter-Seite übersetze, erfahre ich, dass "ungerechtfertigte Preiserhöhungen" als Plünderung gelten sollen. Umso besser.
Ich lese immer mehr Nachrichten und merke, dass ich vorsichtig sein muss. Sie erwecken in mir neue Gefühle. Es tut mir beinahe körperlich weh, wenn ich Videos mit verletzten Menschen oder Aufnahmen von ruinierten Gebäuden sehe. Stereotypisch würde man von einer Frau erwarten, dass sie weint, dass ihr solche Eindrücke "das Herz brechen". Mein Herz schlägt ruhig, dafür spüre ich eine schmerzliche Ärgerwelle in mir. Ein Tsunami. Den Telegram-Kanal, wo man die grausamen Kriegsverbrechen dokumentiert, werde ich nicht mehr lesen. Das muss ich mir selbst versprechen.
Meine Mutter bekommt eine SMS-Nachricht von einer unbekannten Nummer mit merkwürdigem Text: "Wo gibt's Milch?" Sie ruft die Nummer an, und der Gesprächspartner erklärt: "Man hat mir Ihre Telefonnummer gegeben und gesagt, dass Sie Bescheid wissen." Das ist berührend und lächerlich gleichzeitig.
Ich kann mich dank der Nachrichtenübersetzungen gut auf dem Laufenden halten. In der von Russen eingenommenen Stadt Cherson im Süden gibt es jetzt "humanitäre Hilfe" von unseren Besatzern. Die Chersoner kommen ins Stadtzentrum, um zu demonstrieren. Sie sagen den Eindringlingen direkt ins Gesicht, dass sie in ukrainischen Städten nicht willkommen sind. Auf einem Video sehe ich russische Lkws mit kostenlosen Lebensmitteln, die unberührt bleiben. Ich bin stolz darauf.
Einer meiner ehemaligen IT-Kollegen kommt aus Cherson. Er hat rote Haare und macht immer gute Witze. Ich frage mich, wo er jetzt ist.
Inzwischen haben die Chersoner russisches Militärgerät aus dem Stadtzentrum vertrieben. Ein Polizist mit einer ukrainischen Flagge springt auf einen fliehenden russischen Panzerwagen. Das ist etwas, das mir wirklich das Herz brechen könnte.
Und noch etwas: eines der ersten Kriegsvideos, die jetzt hundertfach durch das Internet gehen. Es gibt ein Video von einer Frau, die einen russischen Soldaten in Cherson furchtlos anspricht. Sie fragt ihn: "Warum seid ihr hierhergekommen?", und empfehlt ihm dann, ohne zuzuhören: "Leg dir eine Handvoll Sonnenblumenkerne in die Tasche. In dieser Erde wirst du liegen."