Die Gemütslage ist seit längerer Zeit gedämpft. Sie ändert sich nicht. Müdigkeit ist alltäglich, die Gedanken kreisen, gerade beim Einschlafen. Auch bei der Arbeit ist alles schwieriger zu bewältigen. Die Konzentration ist nicht mehr das, was sie einmal war. Und im Familienkreis häuft sich die Frage, ob alles in Ordnung ist. Das seien Warnsignale für eine Depression, eine Angststörung, berichtet Jan Di Pauli, Primar der Erwachsenenpsychiatrie in Rankweil. Mit ihrer Erkrankung stehen Betroffene nicht allein da. Weltweit sind die Fälle von Depressionen und Angststörungen laut Weltgesundheitsorganisation in der Pandemie um 25 Prozent gestiegen. Schon zuvor nahmen Leiden dieser Art zu, wie Di Pauli erklärt. So habe sich die Zahl der Krankenstandstage aufgrund psychischer Erkrankungen seit 2006 um 90 Prozent vermehrt. Zum einen werde sicher genauer hingeschaut, analysiert der Chefarzt. "Was früher unter Rückenschmerzen oder Magengeschwür lief, wird heute tatsächlich als Depression oder Angststörung diagnostiziert."
Faktor Alter
Zum anderen begünstigen auch gesellschaftliche Faktoren psychische Krankheiten. "Traditionelle Strukturen wie die Großfamilie, die Dorfgemeinschaft, das Vereinsleben haben sich aufgelöst. Es kommt zunehmend zur Einsamkeit. Ein anderer Punkt ist auch das Alter. Damit nimmt das Risiko, an einer Depression zu erkranken, zu." Grund seien etwa die Bürden, die mit dem Alter kämen, von Erkrankungen bis zu zunehmenden Verlusterlebnissen.
Eine maßgebliche Rolle spielt auch die wachsende Geschwindigkeit von Veränderungen. "Denn im Prinzip neigen wir dazu, veränderungsresistent zu sein", hält Di Pauli fest. "Die Geschwindigkeit ist ein Stressfaktor und bringt zusätzlich Ungewissheit."
Was psychische Erkrankungen anbelangt, bleibt der Aufklärungsbedarf groß. Die Stigmatisierung bei Depression und Angststörung habe sich zwar deutlich verbessert, gleichzeitig seien die Vorurteile mit Blick auf Sucht und Schizophrenie wieder gewachsen: "Das zeigt, dass wir uns auf dünnem Eis bewegen", hält Di Pauli fest. "Gegen die Stigmatisierung zu arbeiten ist ein kontinuierlicher Prozess, der leider wieder umkehrbar ist. In den USA sagen Waffenbefürworter nach einem Amoklauf etwa, dass nicht die Waffe das Problem war, sondern die psychische Erkrankung."
Was die Versorgung psychisch Erkrankter anbelangt, hält der Chefarzt das Angebot in Österreich im internationalen Vergleich für sehr gut. Die Behandlungen haben sich über die Jahre deutlich verbessert. "Das große Problem sind aber die Wartezeiten, bis man überhaupt einen Therapeuten gefunden hat. Der Zugang müsste schnell sein, genau das ist er aber nicht." Wer keinen Kassenarzt findet, muss also selbst in die Tasche greifen.
Unterschiede bei Zuschüssen
Die aktuellen Zuschüsse pro Psychotherapie-Einzelsitzung außerhalb der versicherten Sachleistung betragen bei der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) 28,93 Euro, bei der BVAEB und SVS 40 Euro. "Bei Inanspruchnahme eines Wahlarztes für Psychiatrie gebühren 80 Prozent der Kassenhonorierung", teilt der Dachverband der Sozialversicherungsträger auf Anfrage mit. Die ÖGK zählt österreichweit 176,2 Planstellen für die Psychiatrie, 14 davon sind aktuell unbesetzt. In Vorarlberg ist keine der elf Planstellen offen. Der renommierte Psychiater Reinhard Haller ortet aber einen massiven Mangel in seinem Bereich: "Das ist ein weltweites Problem. Manche sagen sogar, dass es sich zu einem aussterbenden Beruf entwickelt." Psychotherapeuten gibt es seines Erachtens genug. Aber in gleichem Ausmaß wachse auch die Zahl der Patientinnen und Patienten, die einen Therapieplatz suchten, berichtet der Dachverband der Sozialversicherungsträger.
"Bedingt durch die Coronapandemie wird nun aber ein Mehrbedarf von rund 20 Prozent für professionelle psychotherapeutische Versorgung geschätzt", heißt es vonseiten der Krankenkasse. Die ÖGK habe daher 2021 beschlossen, ihr Angebot für Psychotherapie als Kassenleistung bis Ende 2022 um ein Drittel zu erweitern. "Das bedeutet eine psychotherapeutische Versorgung für etwa 20.000 Versicherte."
Die gute Nachricht sei, dass es den Betroffenen mittlerweile leichter falle als früher, Hilfe zu suchen, meint Di Pauli. Umso wichtiger sei ein unkomplizierter Zugang zu ausreichend Angeboten - und das ohne lange Wartezeiten.
Psychotherapie in Zahlen
Kassenplätze. 2017 befanden sich 74.957 Patientinnen und Patienten in Psychotherapie, 2020 waren es bereits 81.619. Die ÖGK will für rund 20.000 Versicherte zusätzliche Plätze schaffen.
Psychiatrie und Neurologie. Österreichweit gibt es 176,2 Planstellen, davon sind 162,2 besetzt. Im Burgenland sind 3 von 4 besetzt, in Kärnten 9 von 10, in Niederösterreich alle 28,5, in Oberösterreich alle 23,2, in Salzburg 15 von 15,5, in der Steiermark 27 von 28, in Tirol 15 von 17, in Vorarlberg alle 11 und in Wien 30,5 von 39.
Regionale Unterschiede. Verträge gibt es mit 23 Institutionen in Wien und der ÖGK, in Niederösterreich mit 12 Vereinen, in der Steiermark mit 360 Therapeuten, im Burgenland mit dem Institut für Psychotherapie und dem psychosozialen Dienst, in Kärnten mit 10 Vertragsinstituten, in Salzburg mit 350 Therapeuten und in Vorarlberg mit 75 Psychotherapeuten. Keine Zahlen gibt es von Oberösterreich und Tirol.
Kostenersatz. Die Zuschüsse pro Therapiesitzung unterscheiden sich je nach Krankenkasse. Bei der ÖGK sind es 28,93 Euro, bei der BVAEB und der SVS 40 Euro.
In einer gemeinsamenRecherche beleuchten die SN, die "Kleine Zeitung" und die "Vorarlberger Nachrichten" die Auswirkungen von Ärztemangel und Zweiklassenmedizin in Österreich. Die Ergebnisse finden Sie laufend unter www.sn.at/medizin