Frau Proksch, die Gallup-Studie spricht eine deutliche Sprache. Nur mehr neun Prozent der Beschäftigten geben an, engagiert zu sein. Warum ist es so schwierig geworden, Mitarbeitende emotional an ein Unternehmen zu binden? Elisabeth Proksch: In den letzten 20 Jahren hat sich die Arbeitswelt stark gewandelt. Heutzutage legen Mitarbeitende viel mehr Wert auf Work-Life-Balance, Führung auf Augenhöhe, Flexibilität und sinnstiftende Aufgaben. Loyalität ist ein Gefühl, das durch gemeinsame Erfahrungen, Erfolge und gut gemeinsam gelöste Konflikte entsteht. Auch die Auseinandersetzung mit meinem Umfeld in physischer Präsenz und das Wahrnehmen der Menschen um mich herum sind wichtig, um Interesse und Bindung herzustellen. Die Studie zeigt außerdem, dass Arbeitsbedingungen und leistungsgerechte Bezahlung eine große Rolle spielen: Fühlt sich ein Mensch nicht fair behandelt, wird er rascher bereit sein, zu wechseln, um seine Situation zu verbessern.
Inwiefern haben sich die Erwartungen an Führungskräfte und Arbeitsumgebungen verändert? Ein wesentlicher Grund für eine Kündigung ist die Beziehung zur direkt vorgesetzten Person. Führungskräfte müssen sich einmal mehr konkret überlegen, wie sie die Beziehung zu ihren Teams tragfähig gestalten. Faktoren wie Vertrauen und Wohlfühlkultur müssen sich dabei immer die Waage halten mit Klarheit, Fairness und konsequentem Handeln. Das verstärkt schlussendlich die Bindung von Mitarbeitenden zu ihren Unternehmen. Eines darf man meiner Meinung nach nicht vergessen: Alles ist - auch in dieser Beziehung - ein Geben und Nehmen.
Was bedeutet es für Unternehmen, wenn Menschen nicht mehr nur "aus Loyalität" bleiben? Dass Mitarbeitende leichter und schneller ihre Jobs wechseln, ist normal für unsere Zeit. Es gibt immerhin deutlich mehr Angebot und Information als früher. Ein Hebel für Führungskräfte ist, Arbeitsbereiche durch zusätzliche oder andere Verantwortlichkeiten, Projekte oder Rollen aufzuwerten. Weiterentwicklung bedeutet für viele darüber hinaus eine finanzielle Weiterentwicklung und Karriere. Oftmals ist hier wenig Spielraum im Sinne der Wirtschaftlichkeit des Unternehmens. Wenn hier keine Entwicklung geboten werden kann, ist mit einer höheren Fluktuation zu rechnen, da Menschen ihre Lebenskosten stemmen müssen und sich einen gewissen Standard erarbeiten möchten.
Führungskräfte kommen oft ohne angemessene Vorbereitung oder Coaching in ihre Position. Welche Kompetenzen braucht es im Jahr 2025? Das Wichtigste ist, dass eine Führungskraft bereit ist, sich als Mensch und in der Rolle als Führungskraft zu entwickeln und zu wachsen. Wesentlich ist auch die Bereitschaft, Kontakt und Beziehung zu den Mitarbeitenden aufzubauen und mit ehrlichem Interesse anzubieten. Was viele Führungskräfte schnell in den Hintergrund geraten lassen: Beziehung heißt auch Grenzen setzen, Fehlverhalten angemessen korrigieren und Konflikte lösen, nicht vermeiden. Menschen möchten sehen, dass eine Führungskraft durchgreifen kann, bestimmt, aber höflich, wenn notwendig aber ein offenes Ohr hat, wenn es um persönliche oder berufliche Nöte geht. Dies schafft Akzeptanz.
Welche Führungsstrategien wirken? Wirksame Führungsstrategien basieren auf einem ausgewogenen, situativen Mix aus aufgaben-, personen- und beziehungsorientierter Führung. Zentrale Faktoren für die Mitarbeiterbindung sind gute Arbeitsbedingungen, faire Bezahlung, eine gesunde Führungs- und Unternehmenskultur sowie entwicklungsfördernde Aufgaben. Führung muss stärker als dynamischer Prozess verstanden werden, der kontinuierlich auf Schwächen in diesen Bereichen reagiert. Erfolgreiches Führen bedeutet zudem, Mitarbeitenden Gestaltungsspielräume und Selbstverantwortung zu geben - im klaren Rahmen, der zur jeweiligen Branche und den Arbeitsprozessen passt. Während in Bereichen mit wenig Handlungsspielraum, etwa der Industrie, strukturelle Rahmenbedingungen entscheidend sind, spielt in wissensbasierten Berufen Selbstbestimmung eine größere Rolle.
Was ist ein konkreter Schritt, den ein Unternehmen noch heute setzen kann, um ganz niederschwellig mehr Bindung aufzubauen? Orientierungslosigkeit ist ein häufiger Grund, warum Mitarbeitende ein System verlassen. Ein konkretes Tool, um die Klarheit zu erhöhen und damit Orientierung und eine Atmosphäre der Fairness und Achtsamkeit zu fördern, ist der persönliche Kontakt, etwa auch durch Mitarbeitergespräche, die drei- bis viermal im Jahr stattfinden statt nur einmal. Längerfristig sehe ich starken Handlungsbedarf im Kulturbereich: die Entwicklung einer Führungskultur, die verstärkt Werte, Verhalten und Maßnahmen enthält, die auf die Mitarbeiterbindung einzahlt, und ein gemeinsames Verständnis dazu unter den Führungskräften. Das schafft eine Unternehmenskultur, in der sich Mitarbeitende zugehörig fühlen und ihre Leistung gern einbringen.