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Zukunftsforscher Reinhold Popp: "Viele Rituale des Schullebens sind realitätsfern"

Von prägenden Kindergartenjahren, monarchistischer Militärpädagogik und einer dringend notwendigen Reform des österreichischen Schulsystems - sowie ein Blick in die Zukunft.

Reinhold Popp findet die Notenbeurteilung in den Schulen anachronistisch – er plädiert stattdessen für eine Feedbackkultur.
Reinhold Popp findet die Notenbeurteilung in den Schulen anachronistisch – er plädiert stattdessen für eine Feedbackkultur.

Der österreichische Zukunftsforscher Reinhold Popp hat einiges zu sagen, wenn es um Themenbereiche wie Bildung, pädagogische Konzepte und Zukunftsthemen geht. In den 1970ern arbeitete er als Lehrer an verschiedenen Schulen, studierte Politikwissenschaft, Pädagogik und Psychologie und widmet sich seither der Erforschung der Zukunft. Der 75-Jährige gewährte den SN einen kleinen Einblick in seine Gedankenwelt.

Welche Rolle spielen Kindergärten als erste Bildungsinstitution? Reinhold Popp: Allzu oft werden Kindergärten als Einrichtungen zur Aufbewahrung von Kleinkindern missverstanden. In Wahrheit ist der Kindergarten die wohl am meisten unterschätzte Bildungseinrichtung, deren pädagogische Qualität die späteren Chancen in der Arbeitswelt signifikant verbessert. Denn gute Bildungs- und Erziehungsarbeit in Kindergärten kann lebenslang wirksame Beiträge für mehr Chancengerechtigkeit leisten. Für die pädagogische Unterstützung von Kindern mit Migrationshintergrund sind Kindergärten besonders essenziell.

Hier kommt allerdings oft der viel zitierte Fachkräftemangel ins Spiel. Der auch im Bereich der Kindergartenpädagogik feststellbare Fachkräftemangel resultiert unter anderem aus der gesellschaftlichen Wertigkeit dieses wichtigen Berufs. Die Gehälter der Elementarpädagoginnen und -pädagogen gehören ganz klar erhöht und die Ausbildung für diesen Beruf müsste an Pädagogischen Hochschulen stattfinden.
Kindergärten müssen ein selbstverständlicher Teil der pädagogischen Angebotsstruktur werden. In diesem Sinne müssen in jeder Gemeinde auch genügend Kindergartenplätze zur Verfügung stehen.
Um die teils großen Unterschiede in den Kommunen zu verhindern, müsste man die Koordination der Elementarpädagogik von der Gemeindeebene auf die Landesebene verlagern; analog zur Zuständigkeit für die Pflichtschulen.

Welche Rolle spielt das Elternhaus als Bildungsfaktor? Selbstverständlich ist die von Eltern geleistete Erziehungsarbeit außerordentlich wichtig. Für die Unterstützung bei der Bewältigung der damit verbundenen vielfältigen Herausforderungen sollte die Angebotsstruktur der Erziehungsberatung stark ausgebaut werden. Auch die Medien könnten deutlich mehr zur pädagogischen Lebenshilfe beitragen.

Wie sehen Sie die pädagogische Lage hierzulande insgesamt? In Österreich findet sich eine schlecht ausgebaute pädagogische Infrastruktur - nicht nur bei der bereits erwähnten Elementarpädagogik, sondern auch bei den ganztägigen Schulformen. Allerdings könnte sich ein so reiches Land wie Österreich flächendeckende Kinderbetreuung leicht leisten.

Was halten Sie vom heimischen Schulsystem respektive Bildungssystem? Meiner Meinung nach funktioniert Lernen nur zum Teil durch Lehren. Der allergrößte Teil der lebenslangen Lernprozesse findet ohne Lehrpersonal statt. Zur Vorbereitung auf dieses selbst organisierte, lebensbegleitende Lernen müssten zukünftig die individuellen Interessen, Neigungen und Lerngewohnheiten der Kinder und Jugendlichen sowie das Bildungspotenzial neuer Medien viel stärker berücksichtigt werden als heute.
In diesem Sinne müssten sich in der Schule der Zukunft die Rollen der Lehrerinnen und Lehrer wandeln. Die gegenwärtig noch dominanten Funktionen des Unterrichtens und Prüfens sollten zukünftig zugunsten des Aktivierens, Motivierens, Arrangierens und Moderierens von Lernprozessen reduziert werden. Dies erfordert jedoch nicht nur eine reformierte Schulorganisation, sondern auch eine umfassende inhaltliche Reform der Aus- und Weiterbildung des Lehrpersonals.

Sie haben selbst als Lehrer gearbeitet, sprechen also auch aus Erfahrung. Vor meinem Universitätsstudium habe ich die Pädagogische Akademie absolviert und einige Jahre lang als Lehrer in Volks-, Haupt- und Sonderschulen sowie auch in polytechnischen Schulen gearbeitet. Ich kenne also die Herausforderungen der praktischen Schulpädagogik nicht nur aus Büchern. Wobei ich dazusagen muss: Diese Erfahrungen beziehen sich auf die 1970er-Jahre!

Was würden Sie als Zukunftsforscher am österreichischen Bildungssystem ändern? Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die vielen realitätsfernen Rituale des Schullebens sind die wenig aussagekräftigen Ziffernnoten. Es handelt sich dabei um anachronistische Formen der Leistungsbeurteilung. Eine besonders unsinnige Zuspitzung des Umgangs mit dieser verfehlten Form von Feedback besteht in der weit verbreiteten Vorstellung, dass die Noten in einer Schulklasse im Sinne der Gauß'schen Kurve verteilt sein sollten.
Für die Vorbereitung auf die in der modernen Arbeitswelt übliche Feedbackkultur wäre es viel sinnvoller, schriftliche Rückmeldungen über die Fertigkeiten, Fähigkeiten und Wissensbestände, die in einem Semester beziehungsweise in einem Schuljahr dazugewonnen wurden, zu geben. Zu dieser Art der verbalen Leistungsbewertung gibt es seit den Pionierzeiten der Reformpädagogik, also seit mehr als 100 Jahren, eine Vielzahl von klugen, praktikablen und modellhaft erprobten Vorschlägen.

Sie sagen, dass auch die Unterrichtseinheiten nicht der Realität des Lebens draußen entsprechen. Wie lautet hier Ihr Zugang? Die in schulischen Institutionen übliche Strukturierung der Zeit ist ein längst überkommener Rest der monarchistischen Militärpädagogik aus den Zeiten von Kaiserin Maria Theresia: Eine Exerziereinheit dauerte damals eine Stunde, wobei zehn Minuten für den Gang auf die Toilette und als Rauchpause abgezogen wurden. Bei der Einführung der Schulpflicht in Österreich wurden viele frühere Soldaten als Lehrer eingesetzt und einige Rituale der Ausbildung der Rekruten übernommen.

Im modernen Arbeitsleben spielt die Einteilung der Arbeitszeit in 45- bis 50-minütige Einheiten keine Rolle. In Zukunft muss sich die zeitliche Strukturierung des Schulalltags weniger an der historischen Logik der Kasernenhöfe, sondern vielmehr an den Biorhythmen der Schülerinnen und Schüler sowie an der Bewältigung von projektbezogenen Aufgaben im Teamwork orientieren.

Künstliche Intelligenz, Robotik und vieles mehr: Wie wichtig ist die Zukunftsforschung heutzutage? Zukunftsbezogene Forschung wird in fast allen wissenschaftlichen Disziplinen immer wichtiger. Ohne vertieftes wissenschaftliches Wissen zum jeweiligen Forschungsgegenstand sind plausible Prognosen nicht möglich.
Der Begriff "Zukunftsforschung" wird jedoch von wissenschaftsfernen Zukunftsgurus, die sich meist als "Experten für eh alles" anbiedern, leider allzu oft missbraucht. Für die seriöse vorausschauende Forschung gilt der Slogan: "Wo Forschung draufsteht, muss auch Forschung drin sein." Seriöse Zukunftsforscherinnen und Zukunftsforscher sind sich dessen bewusst, dass Zukunft immer ungewiss ist.

Zur Person: Univ.-Prof. Dr. Reinhold Popp leitet das Institute for Futures Research in Human Sciences an der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien und ist Gastwissenschafter am Institut Futur der Freien Universität Berlin. Einige seiner Veröffentlichungen gelten als Standardwerke der deutschsprachigen Zukunftswissenschaft und Zukunftsforschung.