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Was können Kräuter?

Das Gute liegt so nah. Manche komplementärmedizinische Methode behandelt mit Heilkräutern und pflanzlichen Wirkstoffen. Was leistet die Kraft der Natur und wo sind die Grenzen?

Die benediktinische Universalgelehrte Hildegard von Bingen hat im elften Jahrhundert das aufgeschrieben, was damals als "Volksmedizin" bekannt war: altes Heilwissen, von Frauen von Generation zu Generation weitergetragen. Viele der heute als "Hausmittel" bekannten Pflanzen, Kräuter und Rezepte stammen aus einer Zeit, als Frauen für die Ernährung und Gesundheit von Menschen und Tieren im Dorf zuständig waren. Haustiere dienten mit ihrer Wolle, ihrem Fell, Fleisch oder der Milch dem Überleben. Man musste so leben, sich ernähren und vorsorgen, dass man gar nicht erst krank wurde. Dieser "Volksmedizin" gegenüber stand die "Gelehrtenmedizin" mit Hippokrates oder Paracelsus als Vertreter, die das Heilwissen der Frauen eher belächelten.

Für große Studien fehlt das Interesse

Jene "Volksmedizin" lässt sich heute als Traditionelle Europäische Medizin (TEM) antreffen, noch immer bezieht man sich auf überliefertes Wissen. Doch wenig davon fand Eingang in den wissenschaftlich-medizinischen Kanon. Die Allgemeinmedizinerin Doris Schöpf, bei der Ärztekammer für den Bereich Komplementärmedizin zuständig, erklärt, warum das so ist: "Für die Durchführung von Studien braucht es wissenschaftliche Einrichtungen mit Know-how und vor allem Interesse für den Untersuchungsgegenstand." Und das halte sich im Bereich der Komplementärmedizin eher in Grenzen. Bei der Ärztekammer gibt es kein eigenes TEM-Diplom, da hier Einflüsse in verschiedenen komplementärmedizinischen Richtungen zu finden sind, die TEM so gesehen kein geschlossenes System ist.

Kein Ersatz für Arzneimittel

Gerne zurück hält sich die Apothekerkammer mit Auskünften über TEM und komplementärmedizinische Bereiche. Man betont aber ausdrücklich, dass Produkte aus diesem Bereich "unter keinen Umständen als Ersatz oder Alternative zu Arzneimitteln mit wissenschaftlich belegter Wirksamkeit empfohlen werden können, sondern jegliche Therapie nur ergänzen". Für die Pharmazeuten selbst ist die Empfehlung von Kräutern und anderen naturnahen Zusatzstoffen "Geschmackssache". Apotheker Bernhard Telsnig meint: "Es gibt viele alternative Heilmethoden, aber kein durchgängiges gemeinsames Konzept." Er selbst versucht, die ganze Palette der orthomolekularen Therapie einzusetzen: Pflanzenextrakte, sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe (Vitamine), Elektrolyte, Spurenelemente und Aminosäuren.

"Von einer Selbsttherapie rate ich grundsätzlich ab."
Angelika Riffel
Apothekerin, TEM-Expertin

TEM als Begleitung von Erkrankungen

Pharmazeutin Angelika Riffel beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Wirkweise von TEM. Sie findet, dass mit der Covidpandemie manche alternativen Heilmethoden zu Unrecht in Verruf kamen. TEM sieht sie als ideale Kombination zur Schulmedizin und nicht als Ersatz. Was die wissenschaftliche Evidenz des Heilwissens betrifft, so stellt Angelika Riffel klar: "Im Wohlfühlbereich und in der Präventivmedizin oder bei Fragen zur Ernährung steht evidenzbasierte Wirksamkeit eher im Hintergrund. Wenn es aber um Beschwerden und um die Begleitung von akuten, chronischen und schweren Erkrankungen geht, ist es wichtig, wenn Kenntnisse und Studien vorhanden sind." Im Allgemeinen, so ergänzt sie, seien die in Arzneibüchern erwähnten Pflanzen wissenschaftlich sehr gut untersucht. TEM unterstütze etwa bei chronischen Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck, Rheuma, Autoimmunerkrankungen oder Krebstherapien - hier mit dem Ziel, dass die eigentlichen Medikamente besser vertragen werden und die Lebensqualität erhöht wird.

Jährliche Vorsorgeuntersuchungen als Prävention

Von einer Selbsttherapie rät Riffel grundsätzlich ab. Für sie leistet die TEM jedenfalls im Präventionsbereich gute Dienste. Entsprechende Kuren, die im Gleichklang mit den Jahreszeiten ausgelegt sind, seien sicherlich gesundheitsfördernd; mit Bitterstoffen, Wurzeln und Gewürzen würden die Magenfunktionen unterstützt - immerhin hingen 80 Prozent unseres Immunsystems mit der Darmgesundheit zusammen. Das Rezept für ein langes Leben besteht aus TEM-Sicht darin, das Energielevel, die Selbstheilungs- und Regenerationskräfte zu fördern und auf hohem Niveau zu halten. Denn, so die Grundidee, Krankheiten stünden Tür und Tor offen, wenn die Energie des Körpers erst einmal verbraucht sei.

Eine Schulmedizinerin wie Doris Schöpf klingt da nicht ganz so begeistert: Wolle man Krankheiten vorbeugen, dann setze man doch besser auf jährliche Vorsorgeuntersuchungen: Bei denen könnten Risikofaktoren am besten herausgefiltert und evaluiert werden, um entsprechende Behandlungen zu starten. Einig sind sich die Apothekerin Riffel und die Allgemeinmedizinerin Schöpf darin, dass die beste Gesundheitsvorsorge ohnehin ein guter und gesunder Lebensstil ist.

Die richige Diagnose ist entscheidend

Alle Richtungen der Komplementärmedizin gehörten jedenfalls unbedingt in ärztliche Hand, betont Doris Schöpf. Denn letzten Endes gehe es darum, eine richtige Diagnose zu stellen, um passende Behandlungen und Therapien empfehlen zu können, und das sei nun einmal Aufgabe der Ärzteschaft. Die Allgemeinmedizinerin hat sich als Ergänzung zur konventionellen Medizin auf den komplementärmedizinischen Bereich der Homöopathie konzentriert und verfügt über umfassendes psychosomatisches Wissen, wie sie betont.

Komplementärmedizin wird heute oft ergänzend praktiziert, etwa 8000 der rund 14.000 in Österreich niedergelassenen Allgemeinmediziner verfügen über so eine Qualifikation zusätzlich zur klassischen Schulmedizin in Form eines ÖÄK-Diploms. Wobei dazu auch Ausbildungen zählen, die es mittlerweile in den schulmedizinischen Kanon geschafft haben, etwa die manuelle Therapie. Die Grenze jeglicher komplementärmedizinischer Therapiemethoden sieht die Allgemeinmedizinerin Schöpf dort, wo nach eingehender ärztlicher Diagnostik die therapeutische Entscheidung in Richtung konventioneller Medizin geht oder auch eine Operation nötig sei. Diagnose und Therapieentscheidungen seien übrigens auch rechtlich gesehen den Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.

Anders verhalte es sich im sogenannten Wellnessbereich, betont Schöpf, wo es vorrangig um den persönlichen Komfort gehe. Vieles aus der TEM verlagere sich aktuell in den Bereich Energetik, der zuletzt enorm gewachsen sei. Das beobachtet die Ärztin mit Sorge: Vieles von dem, was Menschen dort für teures Geld suchten, stelle auch unser Kassensystem zur Verfügung.