Die Wiener SPÖ will Matura und Noten abschaffen. Für die von den SN befragten Bildungsexperten ist das eine glatte Themenverfehlung.
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Aus für die Matura? Bildungsexperten plädieren für Reformen, aber sind gegen eine Abschaffung der Matura. An den AHS wurde die Zentralmatura im Schuljahr 2014/15, im darauffolgenden Schuljahr flächendeckend eingeführt.
Große Personalnot in Schulen und Kindergärten. Jugendliche, die mitunter die Schule verlassen, ohne sinnerfassend lesen zu können. Oder die Integrationsprobleme, die seit dem Terror in Israel und seinen Folgen wie durch ein Brennglas auch wieder in den Klassenzimmern sichtbarer wurden - allen voran in der Bundeshauptstadt Wien: Die Probleme im Bildungssystem sind mannigfaltig. Dennoch wird seit dem Wochenende über ganz etwas anderes debattiert: Der Vorstoß der Wiener SPÖ, die Matura - und die Schulnoten gleich dazu - abzuschaffen.
Die "punktuelle Wissensabfragung" entspreche nicht mehr den Herausforderungen der Zeit, hatte Wiens Bürgermeister Michael Ludwig gemeint. Es gelte vielmehr, den Wissensstand insgesamt zu beurteilen. "Wer mindestens zwölf Jahre lang alle Prüfungen bestanden hat, braucht keinen finalen Entscheidungstag", sekundierte SJ-Chef Paul Stich. Projektarbeiten wären sinnvoller als die Zentralmatura. Hat die Matura also ausgedient? Oder ist der rote Vorstoß "ein Angriff auf das Bildungssystem", wie das die ÖVP befürchtet? Was ist dran an diesen Argumenten?
"Wir vergeuden damit Zeit und Emotionen. "
Christiane Spiel
Bildungspsychologin
"Mit der Debatte werden Zeit und Emotionen vergeudet"
Für die Wiener Bildungspsychologin Christiane Spiel geht die Debatte "völlig am Ziel vorbei". Natürlich müsse man am Bildungssystem ständig dynamisch weiterarbeiten - "die Welt verändert sich rasch, die Schule hinkt ohnehin stets hinterher", auch über eine Weiterentwicklung der Matura sollte man reden. Aber der Ruf nach einer Abschaffung der Matura sei "nichts als Aktionismus", denn damit komme man dem Ziel, Schülerinnen und Schüler bestmöglich mit Kompetenzen für ihre Zukunft auszustatten, keinen Schritt näher. Außerdem sei ein Ritual zum Abschluss der Schulzeit sinnvoll, das zeige: "Ich habe es geschafft."
Was Spiel besonders ärgert: "Mit solchen Debatten vergeuden wir nur wieder viel Zeit und Emotionen. Statt ständig über die Blasen zu reden, in denen die Jungen leben, sollte man sich einmal die Blasen anschauen, in denen wir Erwachsene sind und in denen die Politik sich bewegt", sagt sie.
Qualität im Kindergarten und in der Volksschule steigern
Auch Bildungsforscher Stefan Hopmann, der an der Universität Wien und zuvor in Norwegen gelehrt hat, hält nichts von einer Abschaffung der Matura. Das sei ein reines "Oberklassenthema", mit dem man das Pferd von hinten aufzäume. "Es gibt wesentlich drängendere Probleme im Bildungsbereich", sagt er. "Etwa die Frage, warum so viele Kinder im Schulsystem auf der Strecke bleiben." Er plädiert dafür, massiv an der Qualitätsschraube im Kindergarten und in der Volksschule zu drehen. Denn: "Je früher man in Bildung investiert, umso besser." Auch für Hopmann ist die Matura ein wichtiges Übergangsritual. "Man würde ja auch nicht fordern, die Diplomprüfung an der Universität abzuschaffen", sagt er. Und ja, für viele Studiengänge gebe es unterdessen Aufnahmeprüfungen. Aber der Großteil der Studienangebote in Österreich sei mit Matura immer noch frei zugänglich.
Reform der Zentralmatura nötig
Hier hakt AHS-Gewerkschafter Herbert Weiß ein. "Die Matura ist nach wie vor etwas wert", sagt er. Sie sei auch international meist Voraussetzung, um eine Universität besuchen zu können. Das müsste man grundsätzlich mitbedenken, wenn man nach einer Abschaffung rufe - und zwar, um die Jungen nicht ihrer Chancen zu berauben. Er ist gegen eine Abschaffung, hielte aber eine Reform der Zentralmatura für sinnvoll. So sollte man etwa darüber nachdenken, ob es nicht klüger wäre, zu Fachbereichsarbeiten zurückzukehren, statt jede Maturantin, jeden Maturanten eine vorwissenschaftliche Arbeit verfassen zu lassen. "Das ist inflationär."
Fachbereichsarbeiten hingegen würden nur von jenen Schülerinnen und Schülern verfasst, die sich auch wirklich in eine Materie hineintigern wollten (und sich damit zugleich eine Maturaprüfung ersparen könnten). Wie Weiß verweist Carmen Treml, Bildungsexpertin der wirtschaftsliberalen Denkfabrik Agenda Austria, darauf, dass die Matura spätestens seit Corona auch keine "punktuelle Wissensabfragung" mehr sei. Denn im Laufe der Pandemie wurde die Matura insofern reformiert, als die Noten im Abschlusszeugnis in die Bewertung der Maturanote mit einfließen.
"Den Kindern nicht alle Hürden aus dem Weg räumen"
"Die Worte" fehlen Gewerkschafter Weiß angesichts der Überlegung der Wiener SPÖ, die Noten im Schulbetrieb generell - von der Volksschule bis zur Matura - abzuschaffen. "Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Wir können die Kinder und Jugendlichen nicht aufs Leben vorbereiten, indem wir ihnen alle Hürden aus dem Weg räumen", sagt er. Bildungspsychologin Spiel verweist auf Untersuchungen, wonach eine Abschaffung von Noten mitunter dazu führe, dass die verbale Benotung die Ziffernnote nur ersetze. "Eine völlige Abschaffung einer standardisierten Rückmeldung halte ich für problematisch", sagt sie. Sinnvoll wäre es ihrer Meinung nach aber, die Ziffernnoten durch differenzierte verbale Beurteilungen zu ergänzen.
Mit der Bundespartei dürfte der Vorstoß der mächtigen Wiener Landesgruppe jedenfalls nicht abgestimmt gewesen sein. Eine Reform der Matura trage man mit, ein Aus für Ziffernnoten sei aber keine Position der Bundespartei, hieß es am Wochenende. Und überhaupt habe man derzeit andere Prioritäten, tönte es aus der Partei.