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Was im Körper bei Stress passiert - und wie sich das auf unser Immunsystem auswirkt

Geraten wir in eine stressige Situation, reagiert unser Körper nach einer Art Protokoll aus der Steinzeit. Was dabei passiert und wie Stress das Immunsystem beeinträchtigt.

Der Leistungsdruck in unserer Gesellschaft ist enorm. Kindern wird bereits früh beigebracht, Erfolge zu liefern. Auch später gilt oft: Wer viel leistet, ist erfolgreich. Das klingt verlockend nach Freiheit, hat jedoch Tücken. Der ständig erzeugte Stress lässt uns an die Grenzen des Machbaren gehen. Doch was passiert eigentlich, wenn wir Stress ausgesetzt sind?

Veronika Engert ist Psychologin am Universitätsklinikum Jena und am Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften und beschäftigt sich seit geraumer Zeit damit, was im Körper passiert, sobald es stressig wird. "Die Stressreaktion teilt sich hauptsächlich in zwei Komponenten", sagt sie. Einerseits sorgt das sogenannte sympathische Nervensystem für die Freisetzung der Hormone Adrenalin und Noradrenalin. Andererseits mobilisiert die sogenannte HPA-Achse langfristige Energien und schüttet ein weiteres Stresshormon aus: Cortisol.

Herausforderungen früher und heute

Die Stressreaktion des Körpers sei eine Art Notfallprotokoll aus der Steinzeit, sagt Engert: Binnen Sekunden wird der Körper mit Energie geflutet, damit wir eine potenziell lebensbedrohliche Situation meistern können. Unsere Sinne werden schärfer, unsere Muskeln stärker durchblutet und alle verfügbare Energie wird mobilisiert. "Wir brauchen diese Reaktion, um in stressigen Situationen adäquat reagieren zu können", sagt die Expertin. In der Steinzeit war das etwa der Angriff eines Bären: "Da mussten wir schnell handeln."

Heute sind die Herausforderungen andere. "Das Problem liegt nicht in der Stressreaktion selbst, sondern darin, was uns stresst", gibt Engert zu bedenken. Vor allem seien das psychosoziale Stressoren wie soziale Vergleiche, Druck, Hektik, Lärm oder Multitasking. "Es sind keine lebensbedrohlichen Situationen wie der Angriff eines Bären, aber unser Körper reagiert darauf in gleicher Weise."

Der Unterschied zu früher ist auch: Bei vielen Menschen tritt kaum mehr Erholung ein, da sie so häufig gestresst sind. Zahlreiche Umfragen belegen, dass das Stressempfinden der Menschen zugenommen hat. "Das hat sich auch durch Corona weiter verschärft", sagt Engert. Auch das bloße Gefühl, gestresst zu sein, ohne eine echte Gefahr als Ursache gehe mit derselben Reaktion des Körpers einher - also mit der Aktivierung der beiden Achsen im Körper.

Langfristige Effekte von Stress

Stresshormone wie Cortisol können positive Effekte haben, wenn der Körper schnell reagieren muss. Langfristig wirken sie sich negativ auf unsere Gefäße und unser Herz aus. Typische stressassoziierte Erkrankungen sind etwa Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen, aber auch Unfruchtbarkeit. Dazu kommt: "Langfristig kann die vermehrte Freisetzung der Stresshormone dazu führen, dass unser Immunsystem unterdrückt wird", sagt Psychologin Engert.

Das bewies vor Kurzem auch eine Studie der Universität von Südkalifornien. Forschende wissen zwar schon länger, dass vor allem psychischer Stress Einfluss auf unsere Abwehrkräfte haben kann. In der Untersuchung wurden nun die dahinterliegenden Mechanismen dargelegt. Demzufolge beeinflusst Stress die Neuronen im Zwischenhirn, die wiederum die weißen Blutkörperchen stimulieren und im Körper verschieben können. Diese eigentlich für die Immunabwehr notwendigen Zellen sind somit nicht mehr ausreichend in der Lage, die Abwehr von Viren zu gewährleisten. Vor allem sozialer Stress, Mobbing und Depressionen führen der Studie zufolge zu einem schneller alternden Immunsystem.

Stress kann ansteckend sein

Generell geht es aber nicht nur um den Stress, den man am eigenen Leib erfährt. "Es reicht sogar, wenn man den Stress der anderen miterlebt", sagt die Psychologin. Das sei quasi ansteckend und könne möglicherweise negative Auswirkungen auf die eigene Gesundheit haben. Das Team um Engert ließ dafür Menschen im Labor anderen gestressten Leuten zuschauen. Es zeigte sich: Je näher sie der gestressten Person waren, desto stärker reagierten sie auch selbst. Die Reaktion war zudem stärker, je empathischer eine Person ist.

"Stress ist ansteckend. Es reicht, wenn wir Stress der anderen miterleben."
Veronika Engert
Psychologin

Insgesamt spielen jedoch nicht nur Hormone, sondern auch die Gene eine gewisse Rolle in der Stressreaktion. Studien zeigen, dass ein erhöhter Cortisolspiegel bei Müttern teilweise an das ungeborene Kind weitergegeben wird. Ein Team des Münchner Max-Planck-Instituts für Psychiatrie analysierte, wie sich das auf die Babys auswirkt: Sie stellten fest, dass das Gehirn sich anders entwickelte und mehr Nervenzellen ausbildete. "Es könnte ein Vorteil sein und im späteren Leben zu einer höheren Toleranz gegen Stress führen", hieß es in einer Aussendung. "Es gibt aber auch Hinweise darauf, dass es ein Nachteil ist." Aus früheren Studien wisse man, dass in Haushalten, in denen Mütter Stress hatten, die Kinder häufiger an Depressionen oder neurologischen Entwicklungsstörungen litten.

Rezept gegen zu viel Stress

Was kann also ein Rezept gegen zu viel Stress im Alltag sein? "Ich denke, der Schlüssel liegt im Umgang mit Stress", sagt Psychologin Veronika Engert. Man solle herausfinden, was einen stresse: Ist es Lärm? Sind es Situationen, in denen man beurteilt wird? Oder etwa, wenn das Haus nicht sauber geputzt ist? "Wenn man das weiß, kann man sich systematische Hilfestellungen einbauen", rät sie. Etwa einen Tag nach dem Urlaub freinehmen, um sich wieder zu organisieren und Wäsche zu waschen. Zudem gebe es viele Möglichkeiten, um Stress zu reduzieren: Etwa bewusste Atemtechniken, Yoga oder Sport - und: "Ich rate auch jedem, sich weniger in sozialen Medien aufzuhalten", sagt Engert. Der permanente Vergleich mit vermeintlich besseren, schöneren Menschen führe zu Stress, selbst nicht zu genügen.

"Ich finde die Idee schön, sich stressfreie Inseln zu schaffen", sagt sie. Das könnte etwa heißen, einen Tag oder Abend pro Woche mit sich zu verbringen und das zu tun, was einem guttut. Struktur sei generell ratsam, um Stress zu reduzieren. Engert: "Wir wissen doch eigentlich, was uns guttut. Wir nehmen uns nur nicht oft die Zeit dafür."