"Teilzeit für Lehrerinnen und Lehrer einschränken" - Bildungsexperte Nikolaus Glattauer im Interview
Der Blick eines früheren Lehrers auf die Schule ist ernüchternd. Warum es einen "Turbo in Deutsch" und mehr Druck auf Eltern braucht.

Bildungsminister Christoph Wiederkehr (Neos) fordere das Richtige, nun müssten Taten folgen, sagt Nikolaus Glattauer.
Wenn die Bildungspolitik eine Schülerin wäre: Hat sie sich dieses Jahr aufrecht bemüht, sich zu verbessern? Nikolaus Glattauer: Oh ja, das muss man schon sagen. Man hat erkannt, wo die Probleme liegen und dass es nicht reicht, nur an kleinen Schrauben zu drehen. Ich fürchte nur, dass selbst der neue Bildungsminister, der als Wiener Bildungsstadtrat viel getan hat, erkannt hat, wie wenig geht, wenn man im Ministerium sitzt. Zumal ja kein Geld da ist.
Woran merken Sie das? Daran, dass immer mehr Worthülsen produziert werden. Wenn man dann schaut, ob es passiert, passiert es nicht. Ob das jetzt das verpflichtende Kindergartenjahr ist oder der Versuch, zumindest in Modellregionen die Volksschule zu verlängern. Da könnten mehr Meter gemacht werden. Auch von der großen Ankündigung, Eltern, die nicht mitwirken, in irgendeiner Weise zu sanktionieren, hört man plötzlich nichts mehr.
Aber sind Sie da nicht ein bisschen ungeduldig? Der neue Minister ist erst seit knapp einem halben Jahr im Amt. Ja, ich bin ungeduldig. Jetzt müsste schon was passieren. Beispiel: Wir haben jetzt Sommerferien. Es hat geheißen, dass es eine verpflichtende Sommerschule für die geben soll, die nicht Deutsch können. Haben wir die? Nein.
Sie soll nächsten Sommer fix kommen, heißt es. Ja genau, es ist immer nächstes Jahr. Und wissen Sie was? Ich habe den Verdacht, dass es nächstes und übernächstes Jahr so weitergeht. Also Ankündigungen schön und gut - der Bildungsminister kündigt ja das Richtige an. Es passiert nur nichts. Wir können nicht mehr warten. Warum nicht? Weil uns die Lehrer abhandenkommen und die Elementarpädagoginnen. Die laufen uns davon. Und was wir kriegen, ist nicht fertig ausgebildetes Personal, das teils überfordert ist.
Sie sprechen an, dass auf den massiven Personalmangel viel zu spät reagiert wurde. Genau. Wobei man hier stark differenzieren muss: Wir haben in den Pflichtschulen ganz andere Probleme als im Gymnasium. Und in den Städten andere Probleme als auf dem Land. Im Waldviertel suchen sie händeringend nach Kindern, weil dort die Schulen zusperren müssen. Und in Wien will keine Lehrerin mehr dort arbeiten, wo es 90 oder 100 Prozent Kinder mit nicht deutscher Muttersprache gibt. Aber man hat geglaubt, man kann sich durchschwindeln. Dann kamen der Ukraine-Krieg und der Familiennachzug. Und jetzt haben wir vor allem in Wien, aber auch in anderen Städten eine Situation, mit der die Lehrerinnen und Lehrer oft nicht mehr umgehen können. Die Schulen schaffen es nicht mehr. Die Pädagogen sind auch nicht ausgebildet, um diese Herausforderungen zu meistern.
Was meinen Sie damit konkret? Eine Wiener Lehrerin im Pflichtschulbereich ist heute mitunter die Hauptperson für Integrationsarbeit, die oft auch noch versucht, die ganze Familie zu integrieren, versucht, den Kindern Manieren beizubringen, Regeln. Von Deutsch rede ich da noch gar nicht. Aber wie kommt sie dazu? Das ist nicht ihr ursprünglicher Job gewesen.
Gerade in Brennpunktschulen soll es etwa über einen Chancenindex mehr Unterstützung geben. Ebenso wie mehr Schulsozialarbeit und Schulpsychologen. Soll, soll, soll. Ich glaube es schlicht und einfach nicht. Ich schaue mir auch an, wie das alles finanziert werden soll.
Sie haben den Lehrermangel angesprochen. Woher die Pädagogen nehmen? Auch die Pensionierungswelle rollt. Auf die Schnelle kriegt man die Leute vermutlich nicht. Es wäre schon viel geholfen, wenn man jene, die man hat, so behandelt, dass sie bleiben. Das geschieht zum Teil nicht. Die Frage ist auch, wie man verhindern kann, dass nicht mehr fast 40 Prozent der österreichischen Lehrerinnen und Lehrer in Teilzeit arbeiten - weil sie überfordert sind, weil sie ausgebrannt sind und ja, weil man es ihnen leider auch zu leicht macht, in Teilzeit zu gehen. Das geht nicht. Würden sie alle Vollzeit arbeiten, hätten wir wohl keinen Lehrermangel.

Wie könnte man dahin kommen? Man müsste die Möglichkeiten, in Teilzeit zu gehen, einschränken. Ich spreche hier nicht von der alleinerziehenden Mutter oder der ausgebrannten Lehrerin im 35. Dienstjahr. Wenn jemand nachweisen kann, dass er es braucht, soll Teilzeit bewilligt werden. Aber wenn jemand nur weniger arbeiten will, soll man das nicht gewähren. Ich verstehe bis zu einem gewissen Grad, dass man seine Lebensqualität dadurch erhöhen möchte. Aber das System kracht und daher geht es nicht. Und dann müsste man halt versuchen, die Situation für Lehrerinnen und Lehrer erträglicher zu machen. Wir haben einen ganz schlecht funktionierenden Schulapparat, nämlich die Schulaufsicht, also in den Bildungsdirektionen. Ich kenne Lehrerinnen und Lehrer, die melden, dass sie Quereinsteiger sind und gern ein paar Stunden mehr arbeiten möchten. Und da gibt es niemanden, der antwortet. Und wenn man anruft, landet man in der Endlosschleife.
Da geht es auch um den Kompetenzdschungel. Was tun? Entweder man übergibt die Schule ganz an die Länder, dann haben die Länder auch wirklich Durchgriffsrechte. Oder man gibt sie ganz zum Bund, dann macht das Land halt das, was der Bund vorgibt. Aber das passiert nicht. Und dann kommt ja auch die Parteipolitik dazu. Zumindest was Wien betrifft, haben wir jetzt eine günstige Situation, weil der Bildungsminister einmal kein Schwarzer ist. Das ist ja aus der Sicht des Roten Wien ein Labsal. Und die schwarzen Bildungsminister hatten mit den Roten in Wien auch Gegner. Da hat man sich ja gegenseitig keinen Triumph gegönnt über Jahrzehnte.
Man sollte das Zeitfenster jetzt also einfach nutzen? Ja, wenn das Geld da wäre und wenn es nicht bei den Ankündigungen bliebe. Schauen wir einmal. Wobei überall Widerstände auftauchen werden. Das schaue ich mir an, dass die AHS-Lehrer in der Gewerkschaft zum Beispiel bei einer Verlängerung der Volksschule mitmachen. Ich glaube nicht.
Zurück zum Unterricht. Würde ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr reichen, die Deutschkenntnisse der Kinder zu heben? Nein. Aus der Warte des Lehrers sage ich, dass man die Schule davor bewahren muss, dass Kinder dort hineinströmen, ohne Deutsch zu können. Das heißt, sie müssen außerhalb der Schule Deutsch lernen und integriert werden, bevor sie in die Schule kommen. Das ist natürlich eine Herkulesaufgabe, aber das ist nicht Sache der Bildungspolitik, sondern eigentlich der Integrationspolitik. Aus schulischer Sicht ist es auch vollkommen richtig, zu sagen, dass der Familiennachzug vorerst gestoppt wird. Aus Sicht des Bürgers ist es hingegen eine Schande, dass wir das nicht anders schaffen. Aber was Deutsch angeht, braucht es wirklich einen Turbo. Und das geht nur in Kooperation mit den Eltern. Kindern Deutsch beizubringen, wenn die Eltern nicht dahinter sind, funktioniert nicht. Die Eltern haben da eine Bringschuld. Sie müssen also dafür sorgen, dass ihr Kind in einer einigermaßen vernünftigen Zeit gut genug Deutsch lernt, um in einer Klasse bestehen zu können. Da braucht es Überzeugungsarbeit, aber auch Druck.
Inwiefern? Wahrscheinlich muss man es - auch das ist eine Schande - tatsächlich an Sozialleistungen knüpfen. Etwa, indem es erst einen Anspruch auf Sozialhilfe gibt, wenn die Eltern nachweisen können, dass sie alles tun, damit ihre minderjährigen Kinder Deutsch lernen. Denn was hat denn das Kind davon, wenn es nach der Schule auf dem Arbeitsmarkt nicht bestehen kann? Es geht auch um die Durchmischung. 80 Prozent der Probleme ergeben sich ja durch die Segregation beim Wohnen. Warum also nicht mit Schulbussen Kinder von einem Bezirk in den nächsten bringen und wieder zurück? Wichtig ist, dass schon in der Elementarpädagogik Deutschkenntnisse festgestellt werden. Die aktuelle Sprachstandsfeststellung gibt es nur auf dem Papier. Spätestens mit drei Jahren müsste festgestellt werden, was da ist oder ob es eine Verweigerungshaltung gibt. Wenn das Kind in die Volksschule kommt und nicht einmal über rudimentäre Kenntnisse verfügt, kann man sich ausrechnen, wie es weitergeht.
Nikolaus Glattauer (geboren 1969) war Hauptschullehrer in Wien und später Schuldirektor. Heute lebt Glattauer als Autor und Kolumnist in Wien.