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Was Alkoholsucht in der Familie bei den Kindern anrichtet - "Die Kinder bekommen alles mit"

Im Schnitt sitzt in jeder Schulklasse mindestens ein Kind, das zu Hause mit Alkoholsucht konfrontiert ist. Akzente Salzburg rückt die Bedürfnisse dieser Kinder ins Licht.

Akzente Salzburg lud im Rahmen der 5. Österreichischen Dialogwoche Alkohol zum Präventionsfrühstück. Von links: Daniela Glaser (Pro Mente), Bettina Riedrich, Ramona Frauenlob und Leiter Sebastian Müller von der Fachambulanz für Suchterkrankungen in Traunstein, Gerald Brandtner (Akzente) und Nadine Lessiak und Viktoria Wimmer vom Verein JoJo.
Akzente Salzburg lud im Rahmen der 5. Österreichischen Dialogwoche Alkohol zum Präventionsfrühstück. Von links: Daniela Glaser (Pro Mente), Bettina Riedrich, Ramona Frauenlob und Leiter Sebastian Müller von der Fachambulanz für Suchterkrankungen in Traunstein, Gerald Brandtner (Akzente) und Nadine Lessiak und Viktoria Wimmer vom Verein JoJo.

Zwar trinken die Menschen in Österreich deutlich weniger Alkohol als noch in den 1970er-Jahren. Dennoch gelten fünf Prozent der Bevölkerung als alkoholabhängig, das sind rund 460.000 Menschen. Dazu kommen doppelt so viele mit einem problematischen Trinkverhalten. Ihr Risiko, abhängig zu werden, ist stark erhöht.

"Man geht davon aus, dass 10 Prozent der Kinder und Jugendlichen bis 18 Jahre mit Alkoholabhängigkeit von einem oder beiden Elternteilen aufwachsen", sagt Sebastian Müller, Leiter der Caritas-Fachambulanz für Suchterkrankungen im Landkreis Traunstein. Was das für diese jungen Menschen bedeutet, erläuterte der Familien-, Trauma- und Suchttherapeut am Dienstag bei Akzente in Salzburg vor 70 Fachleuten aus verschiedenen Bereichen der Kinder- und Jugendarbeit. Anlass war die Dialogwoche Alkohol, die noch bis 11. Mai zum fünften Mal in ganz Österreich stattfindet.

Jede Suchterkrankung bedeutet für alle Familienmitglieder Stress

Die meisten dieser Kinder seien unsichtbar, weil nur ein verschwindend kleiner Teil der Suchtkranken in Beratungsstellen komme oder eine Behandlung mache, betonte Müller. Alkoholsucht sei mit viel Scham und Schuldgefühlen verbunden. "Eine Suchterkrankung bedeutet für alle Familienmitglieder enormen Stress." Die Erkrankten würden die Auswirkungen auf die Kinder aus Scham ausblenden. Frage er in der Behandlung nach den Kindern, so laute meistens die Antwort: "Die Kinder bekommen nichts mit." Das sei ein Irrtum. "Die Kinder bekommen alles mit. Sie lieben ihre Eltern und sind oft stärker an sie gebunden als Kinder aus nicht belasteten Familien, weil sie in eine Retterposition kommen und sich für die Eltern verantwortlich fühlen." Um das Familiensystem aufrechtzuerhalten, würden sie oft Aufgaben und sehr früh sehr viel Verantwortung übernehmen und sich nach außen abschotten, um das Familiensystem zu schützen.

Müller spricht lieber vom Familiensystem, weil betroffene Kinder oft in Patchworkfamilien leben. Trinke die Mutter, sei die Scheidungsrate hoch. "Frauen von alkoholkranken Männern bleiben lange in der Ehe, oft kommen sie selbst aus Familien, wo ihr Vater getrunken hat."

Kinder können oft keine Bindung aufbauen

Zu kurz kommen bei Kindern aus diesen Systemen die psychischen Grundbedürfnisse, die für ein gesundes Aufwachsen erfüllt werden müssen. So kann oft im sensiblen Alter bis zu drei Jahren keine Bindung aufgebaut werden. Kinder lernen auch nicht, Emotionen wie Aggression, Wut, Scham oder Trauer zu regulieren. Zudem fehlt es ihnen an Orientierung und Kontrolle. "Sie sind mit sehr viel Unsicherheit und Unberechenbarkeit konfrontiert", sagt Müller. Es sei ungewiss, wie der erkrankte Elternteil drauf sei, wenn das Kind nach Hause komme. "Es weiß nicht, ob Essen gekocht ist oder ob die Mutter oder der Vater mit zwei Flaschen Wein intus depressiv auf der Couch liegt." Kinder würden versuchen, auf andere Art und Weise Kontrolle zu erlangen. Dabei würden sie sich oft selbst die Schuld für das Verhalten der Eltern geben. Zu kurz komme auch die Entwicklung des Selbstwertgefühls. "Gewalt ist ein großes Thema, oft werden Kinder beschimpft und erniedrigt." Dazu komme die ständige Sorge um den Elternteil.

Wie soll man an die Eltern und Kinder herankommen?

In einem Punkt waren sich die Expertinnen und Experten einig: Die größte Schwierigkeit sei es, an die Kinder heranzukommen und die Eltern mit ins Boot zu bekommen. Müller: "Oft wissen die Eltern, dass sie ihren Erziehungsauftrag nicht erfüllen können. Sie schützen sich und ihr Familiensystem vermeintlich nach außen, indem sie Hilfe nicht zulassen oder blockieren, damit niemand in die Realität der Familie hineinschaut."


Gerald Brandtner, Leiter der Fachstelle Suchtprävention bei Akzente, nimmt in der Gesellschaft eine Veränderung wahr. Es werde mehr über den Alkoholkonsum und die Auswirkungen geredet. "Wir sind an einem Punkt, wo wir den Mut aufbringen müssen, dieses Tabuthema öffentlich noch mehr anzusprechen und jene zu stärken, die mit Kindern zu tun haben, die in solchen Familien groß werden." Auch das Personal in Kindergärten und Schulen müsse sensibilisiert werden, sagt Müller. "Das Zeitfenster, in dem sich ein Kind öffnet, ist klein, oft macht es nur eine vorsichtige Andeutung." Wird eine Suchterkrankung vermutet, empfiehlt Müller, Kinder anzusprechen und einzuladen, zu erzählen, wie sie ihr Zuhause erleben und welche Rolle der Alkohol spielt. "Wir müssen das Thema enttabuisieren, die Kinder reden, wenn sie empathisch begleitet werden. Keinesfalls dürfen die Eltern abgewertet werden." Die Kinder müssten spüren, dass ein Gespräch keine negativen Auswirkungen habe.

Die Gefahr für die Kinder, später selbst zu erkranken, ist groß

Kinder entwickeln laut Müller verschiedene Strategien: "Uns begegnen Kinder, die versuchen, alles zu überspielen, die immer lustig drauf sind und den Klassenclown oder den Sonnenschein spielen." Andere würden versuchen, die Heldenrolle zu übernehmen und die Familie zu managen. "Das sind Kinder, die mit acht Jahren die Wäsche waschen." Gerade Kinder, die besonders still sind, die besonders gut funktionieren und völlig unproblematisch erscheinen und deren Eltern nicht in der Schule auftauchen, hätten oft Unterstützungsbedarf.

Die Gefahr, eines Tages selbst zu erkranken, sei groß. Rund ein Drittel der Kinder aus suchtbelasteten Familiensystemen entwickle eine psychische Erkrankung, ein Drittel entwickle eine Suchterkrankung und ein Drittel entwickle genügend Resilienz, um unbeschadet zu bleiben - oft durch die Hilfe einer stabilen Bindungsperson in oder außerhalb des Familiensystems.

Kinder brauchen geschützten Rahmen, um über dieses Thema zu sprechen

Um das ganze Dilemma dieser Kinder auf den Punkt zu bringen, zitiert Müller eine Passage aus einem Lied, "Hier bin ich Sohn" des deutschen Sängers Max Mutzke, der mit einem alkoholkranken Elternteil aufgewachsen ist: "Mit meiner Wut und meiner Angst, die nur du mir nehmen kannst, will ich dich verschonen." In diesen Zeilen stecke alles drin, hier müssten Präventionsprogramme ansetzen, betont Müller. "Kinder müssen lernen, über diese Thematik zu sprechen."

Die Fachstelle CariKids in Traunstein bietet seit zwei Jahren Gruppen für Acht- bis Zwölfjährige aus suchtbelasteten Familien an. "Kinder glauben, sie sind allein mit dem Thema, und sie fühlen sich immer schuldig", sagt Ramona Frauenlob. Der Fokus liege auf der Stärkung der Kinder. Vielen sei nicht bewusst, dass ihr Familienleben anders laufe. "Die Mama soll mich ins Bett bringen und nicht umgekehrt."

Verein JoJo setzt auch auf Peerberatung

Ein Angebot des Salzburger Vereins JoJo für psychisch belastete Familien in Salzburg ist seit 2023 die Peerberatung für Teenager (peers4teens). Junge Erwachsene, die das Aufwachsen mit einem psychisch kranken Elternteil aus eigener Erfahrung kennen, bieten Jugendlichen vertrauliche Beratungsgespräche an. "Psychische Belastungen und Suchterkrankungen sind oft eng verquickt", sagt Viktoria Wimmer von JoJo. Und ihre Kollegin Nadine Lessiak ergänzt: "Alkoholkonsum ist die einzige Droge, für die man sich rechtfertigen muss, wenn man sie nicht konsumiert. Das Problem wird oft nicht gesehen."

Präventivworkshops von Pro Mente

Seit Herbst 2024 bietet Pro Mente in allen Bezirken außer der Stadt Salzburg unter dem Titel "Unsere verrückten Familien" Präventivworkshops in den dritten und vierten Klassen Volksschule an. Über das EU-Programm Leader werden 200 Workshops in drei Jahren finanziert, bis Ende Juni sind 55 gebucht. "Es geht um psychische Gesundheit", erklärt Daniela Glaser von Pro Mente. Dreh- und Angelpunkt ist ein großes Wimmelbild, über das die Klasse Einblick in das Leben und die Probleme verschiedener Familien bekommt. Kinder schlüpfen in die Rolle von Detektiven und bearbeiten eine Fallakte. Am Schluss packen sie einen Notfallkoffer für die Seele. Entwickelt wurde das vielfach ausgezeichnete Konzept von "Irrsinnig Menschlich e.V." in Deutschland, einem Verein mit über 20 Jahren
Erfahrung in der Prävention psychischer Gesundheit.

Die anwesenden Fachleute schilderten ihre Erfahrungen. "Wir erleben oft, dass der Alkoholerkrankte so eine Präsenz hat in der Familie, gleichzeitig ist es aber für Kinder ein Tabuthema, das nicht angesprochen werden darf", sagte Doris Lindner von der Partner- und Familienberatungsstelle in der Stadt Salzburg. Die Sorgen und Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen würden ignoriert. Man müsse den Eltern verdeutlichen, wie wichtig es für die Kinder sei, darüber zu sprechen.

Er stelle oft fest, dass sich im Leben des betroffenen Elternteils alles um die Sucht drehe, sagte Herbert Huka-Siller, Leiter der Elternberatung des Landes. "Daher haben die Suchtkranken den Blick für die Kinder nicht. Die Eltern haben oft Defizite in der Interaktion, die Kinder nicht ausgleichen können."

Tabuthema Alkoholkonsum in der Schwangerschaft

Renate Heil, die beim Land Salzburg in der Kinder- und Jugendhilfe tätig ist, brachte das Tabuthema Alkoholkonsum in der Schwangerschaft zur Sprache. "Ich bin immer wieder schockiert, dass die massiven Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder so wenig bekannt sind." Kürzlich sei in Salzburg wieder ein Kind mit 0,6 Promille geboren worden. Kinder alkoholkranker Mütter sind oft klein und schmächtig, kognitiv beeinträchtigt und entwickeln Verhaltensauffälligkeiten. Schaue man bei Kindern und Jugendlichen, die vermeintlich unter ADHS leiden, genauer hin, zeige sich oft, dass es sich um eine Lernentwicklungsstörung handle, die durch den Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft bedingt sei.


Info: Die Suchtberatung des Landes bietet flächendeckend kostenlos und vertraulich Information, Beratung und Unterstützung.
Telefon 0662/8042-3599
E-Mail: psds@salzburg.gv.at