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Fasching und Fastenzeit: Die helle Seite des Verzichts

Der Fasching geht zu Ende, bald ist Verzicht angesagt. Das muss aber nicht Drohbotschaft und Kasteiung bedeuten. Es gibt Wege, die "dunkle" Seite des Verzichts zu überwinden. Wie kann man durch seine "helle" Seite sogar zu mehr Leben finden?

Nicht vergessen: Auch die Tugend ist Balsam für die Seele.
Nicht vergessen: Auch die Tugend ist Balsam für die Seele.

Kein Alkohol, keine Schokolade, keine Süßigkeiten ganz allgemein. Vielerlei und vielfach sind die guten Vorsätze für die Fastenzeit. Vor allem heuer, wo Weihnachten und Neujahr nicht lang vorbei sind und die Waage noch immer im roten Bereich anschlägt. Aber die 40 Fasttage bis Ostern sind lang. Zu sehr ist Verzicht damit verbunden, dass man auf etwas, gar auf "Unverzichtbares" verzichten soll. Daher verwundert es nicht, dass mancher Fastenvorsatz vom Sprichwort "Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert" eingeholt wird.

Eine mieselsüchtige Moral tat ein Übriges, dass der Verzicht in ein schlechtes Licht geraten ist. Auch wenn alle größeren Religionen - aus durchaus guten Gründen - den Verzicht kennen, ist die Verheißung brüchig geworden, dass 40 Tage christliche Fastenzeit oder der muslimische Ramadan direkt das Tor zum Himmel eröffnen. Und überhaupt, warum soll der Mensch sich selbst kasteien, wenn das Leben an sich mühsam genug erscheint. Welchen Sinn soll ein selbst gewählter Bußgürtel haben?

Sind wir also dazu verurteilt, so lang auf den Verzicht zu verzichten, bis er uns durch die äußeren Umstände aufgezwungen wird? Durch Inflation und galoppierende Mieten oder gar durch globale ökologische Krisenerscheinungen, die von Jahr zu Jahr auch in unseren Breitengraden spürbarer werden.

Nein, sagt der führende deutsche Philosoph Otfried Höffe - er tritt jetzt zur Ehrenrettung des Verzichts an. Unabhängig von den Religionen habe der Verzicht lange Zeit in der säkularen Philosophie eine positive Rolle gespielt. Denn Verzichten hänge mit dem Menschsein an sich zusammen, über alle Kulturen, Epochen und Religionen hinweg. Höffe sieht eine dreifache Aufgabe: "Der säkularen Gesellschaft empfiehlt sich, sowohl an die frühere außerreligiöse Bedeutung des Verzichts zu erinnern, als auch zu überlegen, warum er die Bedeutung verloren hat, und schließlich, ob der Versuch, die Bedeutung heute zu erneuern, sinnvoll ist." Dafür biete sich ein dreifacher Weg an: Ein erstes, allgemein gültiges Verzichtsmuster sei das Recht. Etwa durch den Verzicht auf Lynchjustiz und Rache. Ein zweites gehe direkt in das persönliche Leben hinein: die Lehre von den Tugenden. "Ohne jene tiefgreifenden Selbsteinschränkungen, die für Tugenden wie die Besonnenheit, die Tapferkeit und die Klugheit unabdingbar sind, wird dem einzelnen Menschen sein Menschsein nicht möglich." Drittens bringt Höffe "drei Prunkworte" aufs Tapet, die er, gegen den Strich gebürstet, nicht an der christlichen Moral festmacht, sondern an einem Kritiker des Christentums, Friedrich Nietzsche. Dieser habe dem Verzichtsmodell von Armut, Demut und Keuschheit mit deren Einschätzung als "Prunkworte" einen quasiaristokratischen Rang verliehen.

Zu diesen drei philosophischen Grundmustern des Verzichts hat sich nach Ansicht von Höffe ein wesentliches dazugesellt: Der Verzicht "in Hinblick auf die größte Menschheitsaufgabe unserer Zeit, eine Beendigung der geradezu maßlosen Überbeanspruchung der Natur". Diese Aufgabe sei längst erkannt und anerkannt, aber trotz einiger hoffnungsweckender Ansätze nicht hinreichend wirksam in Angriff genommen. Die 28. Weltklimakonferenz vom Dezember 2023 in Dubai lässt grüßen!

Die Rettung der Natur ist nach Höffes Ansicht eines der stärksten Argumente dafür, dass es ohne Verzicht kein Menschsein gibt. "Ohne Frage kann die Menschheit diese Verpflichtung nur mittels gewaltiger, geradezu gigantischer Verzichte bewältigen. Um dem weltweit immer noch zunehmenden Bedarf an Energie, an Süßwasser und an Wohnraum Einhalt zu gebieten, ebenso um die immer noch wachsenden Abfallmengen zu begrenzen, nicht zuletzt um das Vergiften des Bodens, der Gewässer einschließlich des Grundwassers und der Luft sowie dem Artensterben ein Ende zu setzen, müssen die bisher in der Welt vorherrschenden Lebensweisen sich radikal und umfassend ändern."

Wie das gehen soll? Höffe versucht einen positiven Ansatz: "Das Wehtun gehört nicht notwendig zum Wesen des Verzichts dazu." Bis ins 18. Jahrhundert sei Verzicht ohne negative Bedeutung gewesen. Der Verzicht habe nur einen Willensakt bezeichnet, mit dem jemand einen Rechtsanspruch aufgegeben habe. Verzichten habe weder eine dunkle noch eine helle Seite gehabt.

Heute wird Verzichten dagegen beinahe nur mit seiner dunklen Seite verbunden. "Helle" Stimmen regen sich, aber noch eher zaghaft. Ein Beispiel sind die unterschiedlichen Strategien der Klimaschützer. Diese zeigen, dass der Verzicht nicht nur die dunkle Seite des Wehtuns haben muss, sondern auch mit einer hellen Seite des Besserwerdens verbunden werden kann. Das Wehtun vertreten die Klimakleber. Sie sind überzeugt, dass die Gesellschaft sich nicht ändern werde, wenn sie nicht gezwungen werde. Die helle Seite vertreten Klimaaktivisten, die versuchen, mit Visionen zu arbeiten. Etwa indem sie aufzeigen, wie eine städtische Wohnstraße gewinnen kann, wenn es dort statt Parkplätzen für Autos grüne Zonen mit Bepflanzungen, Schanigärten, Spielstraßen und Ähnliches gäbe. Nicht der "Verzicht" auf den Parkplatz steht im Fokus, sondern der "Gewinn" an städtischer Lebensqualität.

Diese helle Seite des Verzichts hat sogar schon in Planungen der Stadt Salzburg Eingang gefunden. Zum Beispiel für einen "Boulevard Rainerstraße". Nach dem Modell der "Mahü" in Wien würde das heißen: Flanieren, Shoppen und Genießen, ohne sich zwischen Autos hindurchdrängen zu müssen. Dem Verzicht auf das Auto vor der Haustür wird der Gewinn an Lebensqualität gegenübergestellt - was freilich nur möglich ist durch eine epochale Verbesserung des öffentlichen Verkehrs, damit der fehlende Parkplatz für die Bewohnerinnen und Bewohner nicht eine unzumutbare Einschränkung ihrer Mobilität bedeutet.

Es muss ein höheres Ziel oder einen höheren Wert geben, um dem Verzicht seine helle Seite abzuringen, ist Höffe überzeugt und nennt als Beispiel die Opfer und Mühen, die Menschen für sportliche, künstlerische oder wissenschaftliche Spitzenleistungen bringen. Ähnliches treffe auf die Tugend der Besonnenheit zu. "Besonnen ist, wer sich nicht seinen jeweils vorherrschenden Bedürfnissen und Wünschen sklavenartig unterwirft, sondern sie so weit einschränkt, wie es für das eigene, aber nicht kurzfristige, sondern langfristige Wohl als erforderlich erscheint." Der Lohn der Mühe sei, dass die einmal erworbene Besonnenheit zur Gewohnheit werde, die dem nachhaltigen Eigenwohl diene. Anstatt Mühe stelle sich eine innere Freude ein, "weshalb von einer dunklen Seite keine Rede sein kann". Genauso verhalte es sich bei anderen Tugenden wie Tapferkeit, Freigebigkeit oder Gerechtigkeit. Einmal erlernt, sei der vorangegangene Verzicht vergessen. Die Tugend werde Balsam für die Seele.

Wiederum auf aktuelle Verkehrsdebatten umgelegt: Einmal mit Mühe erlernt, dass der Pkw nicht das allein selig Machende ist, wird das Klimaticket zum Beispiel dafür, dass der anfängliche Verzicht seine dunkle Seite verliert und eine unerwartet helle Seite zum Vorschein kommt: die Freiheit, immer und überall in Bus, Tram oder Zug einsteigen zu können und loszufahren. Zugegeben: falls die Öffis erstens fahren und das zweitens pünktlich.

Diese helle Seite des Verzichts gilt nach Höffe auch für die Rettung der Welt durch ein freiwilliges, wenngleich erzwungenes Abwerfen von Ballast. Das sei schon aus der Antike bekannt: "Ein Kapitän wirft aus freien Stücken einen Teil seiner Ladung über Bord. Er tut dies aber nicht rein freiwillig, sondern weil er wegen eines extremen Sturms, eines Orkans, nur durch den Verzicht auf Ladung sein Schiff mitsamt Besatzung zu retten vermag."

Ein Verzicht, von außen erzwungen und doch freiwillig um eines höheren Gutes willen, wäre auch die Roadmap für heute: Weil der Kapitän das Überleben für wichtiger hält als materielle Güter, nimmt er die dunkle Seite in Kauf. Er wirft einen Teil über Bord, um die helle Seite, das weit höhere Gut von Menschenleben, zu retten. Könnte diese helle Seite des Verzichts zur Rettung nicht nur eines Schiffs, sondern des Raumschiffs Erde überhaupt werden? Den Versuch, sich dem "Prinzip Höffe" näher zuzuwenden, ist es wert. Selbst wenn es nur "erzwungen freiwillig" wäre.

Otfried Höffe: "Die hohe Kunst des Verzichts. Kleine Philosophie der Selbstbeschränkung", 192 S., ca. 22 Euro, C. H. Beck 2/2023.