SN.AT / Leben

"Trauer läuft nicht linear ab, sie ist spiralförmig"

Tod, Trennung, Jobverlust: Silvia Schilchegger weiß, wie Menschen mit Herausforderungen umgehen lernen. Sie leitet die Kontaktstelle Trauer der Hospiz-Bewegung Salzburg.

Silvia Schilchegger ist für Trauernde da. Das Team kann auf eine „Schatzkiste“ zugreifen, um Gespräche über Trauerfälle zu erleichtern.
Silvia Schilchegger ist für Trauernde da. Das Team kann auf eine „Schatzkiste“ zugreifen, um Gespräche über Trauerfälle zu erleichtern.

Muss es immer einen Todesfall geben, wenn jemand trauert? Silvia Schilchegger: Nein. Trauer durchzieht unser Leben von der Geburt bis zum Tod. Wir alle machen im Laufe des Lebens Erfahrungen mit Trauerprozessen. Bedeutende Abschiede von nahestehenden Menschen, aber auch Verlust von Gesundheit, Fähigkeiten, Möglichkeiten und erträumten Idealen kann mit dem Gefühl von Trauer verbunden sein. Kürzlich habe ich einen jungen Mann kennengelernt, dessen Vater verstorben ist. Die beiden hatten keine enge Bindung, der Sohn hat also nicht um den Toten als Person getrauert. Ihn hat vielmehr die Tatsache mitgenommen, dass er keinen Vater hatte, der ihm nahe war. Insofern können Menschen um ein ungelebtes Leben trauern.

Sie leiten die Kontaktstelle Trauer seit rund drei Jahren. Ihre prägendsten Erkenntnisse? Bei den rund 100 Erstgesprächen, die wir pro Jahr führen, bin ich immer wieder berührt vom Mut der Trauernden, sich diesem Prozess bewusst zu stellen. Wenn sie diesen Weg gehen, erlebe ich es oft, dass letztlich ein Zugewinn entsteht. Diese Trauerarbeit, so schmerzlich und mühsam sie auch sein kann, ist nie umsonst.

Kreatives Gestalten ist oft hilfreich.
Kreatives Gestalten ist oft hilfreich.

Welche Hilfestellung bietet die Kontaktstelle Trauer an? Wenn sich jemand bei uns meldet, laden wir zum persönlichen Gespräch ein. Dabei schauen wir gemeinsam, welche Möglichkeit der Begleitung für die Person stimmig ist. Einerseits gibt es die Einzeltrauerbegleitung, die unsere Ehrenamtlichen übernehmen. Sie findet ein Mal die Woche statt und dauert rund eineinhalb Stunden. Andererseits gibt es Gruppenangebote. Sie liefern einen sicheren Rahmen und Struktur. Sie sind zielgruppenorientiert, es gibt sie beispielsweise für junge Erwachsene oder Eltern. Wertvoll sind die Kreativgruppen mit einem Programm vom kreativen Gestalten über das Kochen und Schreiben bis hin zu Spaziergängen. Ein Begegnungscafé gibt es auch, wir arbeiten mit St. Virgil Salzburg zusammen. Meine Erfahrung ist, dass Aktivitäten viel in Gang bringen können; gerade da, wo das Sprachliche schwierig ist, kann Trauer Ausdruck in anderer Form finden. Unsere Angebote sind übrigens kostenlos. Wir sind spendenfinanziert und heben nur kleine Unkostenbeiträge für einen Materialaufwand ein. Gespräche, Beratung und Begleitung sind immer frei.

Wie trauert man richtig? (Schmunzelt.) Ein Richtig und Falsch gibt es nicht. Trauer ist einfach etwas sehr, sehr Individuelles. Deshalb kann man auch nicht sagen, dass diese oder jene Zeit eine ideale Trauerdauer darstellt. Wir wissen aus Studien, dass etwa 60 Prozent aller Trauernden nach einem Verlust gut mit ihren Gefühlen zurechtkommen. Vorausgesetzt, dass sie in ihrer Trauer so sein dürfen, wie sie sind. Trauer läuft keinesfalls linear ab, sie ist eher spiralförmig.

Also gibt es keine Pauschallösungen? Niemals. Die Trauernden sind die Expertinnen und Experten ihres Lebens. Deshalb geben sie das Tempo und die Art und Weise ihres Trauerns vor. Trauer ist keine Krankheit, sondern ein Leiden im Gesunden. Und die Annahme, dass wir als Begleitende die Trauer lindern könnten, wäre ein Trugschluss. In der Begleitung geht es keinesfalls darum, Trauer zu lindern, sondern darum, sie nicht zu vermeiden oder zu verneinen. Das Um und Auf ist, ihr die Tür zu öffnen.

Trauer ist nach wie vor ein ziemliches Tabu. Wieso sind wir hierzulande so schlecht darin? Weil wir in einer Zeit und Gesellschaft leben, die Werte wie "jung", "dynamisch", "lebendig" und "lösungsorientiert" hochhält. Doch in der Trauer ist die größte Herausforderung das Aushalten und dass man auch einmal nichts sagt oder beiträgt. Eine deutsche Trauerbegleiterin hat den schönen Satz gesagt: "Trauern ist die Lösung und nicht das Problem." Deshalb versuchen wir, den Menschen mit seinem Umgang wertzuschätzen und nichts daran zu ändern. Trauernde brauchen so sehr die Ermutigung und Zustimmung, dass sie richtig sind, so wie sie sind.

Schnelle Lösungen gibt es bei der Trauer nicht.
Schnelle Lösungen gibt es bei der Trauer nicht.

Was ist mit Floskeln wie "Trauer muss verarbeitet werden"? Diese Mythen halten sich hartnäckig. Doch Emotionen kann man nicht verarbeiten, maximal bearbeiten. Und einen Umgang mit ihnen finden. Unser Ziel in der Trauerbegleitung kann nie sein, dass die Trauer vergeht. Sie bleibt ein Leben lang. Es geht darum, sie zu verinnerlichen, und dadurch kann sie ihren Charakter verändern.

Ist es sinnvoll, die Trauer zu verdrängen? Das Verdrängen ist so negativ behaftet. Doch ich möchte eine Lanze für das Verdrängen brechen. Niemand kann unentwegt auf den Verlust im Leben schauen. Der Mensch braucht Pausen.

Heißt das, dass bei Ihnen auch gelacht wird? Ja, denn in der Trauer hat wirklich alles Platz. Es kann humorig werden, gerade wenn es an die Erinnerungen geht. Ich sehe das wie Sonne und Regen, Licht und Dunkelheit; sie gehören zusammen und wechseln sich ab.

Gibt es einen Schlussstrich, den Trauernde irgendwann ziehen sollten? Namhafte Expertinnen und Experten sagen, dass akute Trauer drei bis fünf Jahre dauern kann. Gut gemeinte Sätze wie "Ach, das ist jetzt schon so lange her, es muss dann mal wieder gut sein" helfen nicht. An uns kann man sich unabhängig davon wenden, wie lange ein Todesfall her ist. Dabei denke ich an eine junge Frau, die zwölf Jahre nach dem Tod ihrer Mutter Kontakt mit uns aufgenommen hat. Sie hat mir erzählt, dass sie die Zeit seither nur irgendwie überlebt hat. Nun will sie wieder leben. Dabei unterstützen wir sie.

Spielen in der Trauerbegleitung Glaube, Religion und Kirche tragende Rollen? Nicht unbedingt, obwohl Jenseitsvorstellungen oft mitschwingen. Der Glaube kann unbestritten Halt geben, er ist aber keine Voraussetzung. Wir arbeiten überkonfessionell.

Wie finden wir die richtigen Worte, wenn ich jemanden treffe, der gerade einen lieben Menschen verloren hat? Ich mache die Erfahrung, dass nach dem Verlust oft ein zweiter großer Schmerz kommt - und zwar dann, wenn Trauernde von der Gesellschaft in die Einsamkeit gestoßen werden. Das passiert aus Ohnmacht und der Hilflosigkeit, mit Trauernden umzugehen. Wenn wir uns auf Trauernde einlassen und ihnen begegnen, macht das etwas mit uns. Es führt uns vor Augen, dass das Leben endlich ist. Das ist nicht einfach. Doch trauernde Menschen haben das Bedürfnis, über ihre Verstorbenen reden zu können. Es ist verständlich, dass wir lieber das Freudige im Leben haben möchten. Die Trauer gibt uns ein Sowohl-als-auch vor, in dem beide Seiten des Lebens Platz haben, ohne einander auszuschließen. Eine Möglichkeit kann sein, Trauernden offen zu sagen, dass einem die Worte fehlen.

Die eigene Sprachlosigkeit zu formulieren kann ein gutes Gespräch einleiten? Ja, denn das Schlimmste wäre Ignoranz. Und auch gut gemeinte Ratschläge sind Schläge, sage ich immer. Es ist wichtig, einen Raum zu öffnen als Angebot für die Trauer. Deshalb möchte ich Menschen ermutigen, auf Trauernde zuzugehen. Dabei können sie auch Zurückweisung erleben, denn vielleicht sind sie an diesem Tag bereits die fünfte Person, die nachfragt, wie es geht. Fatal wäre es, aus Angst vor einer Begegnung mit Trauernden die Straßenseite zu wechseln oder sich im Geschäft in Panik hinter Regalen zu verstecken. Wer ausdrückt, dass er gerade selbst nicht weiß, was er sagen soll, hat einen guten ersten Schritt getan.

Wann ist der ideale Zeitpunkt, sich an Profis wie die Kontaktstelle Trauer zu wenden? Dann, wenn es im Umfeld schwierig wird zu reden. Gerade in einer Familie trauert jede und jeder auf ganz unterschiedliche Weise. Alle gehen anders mit den Geschehnissen um. Da kann es sein, dass wir als Dolmetscher fungieren - etwa dann, wenn eine 15-Jährige ihre Gefühle nicht mit der Familie, sondern lieber in ihrem Freundeskreis teilt. Verständnis ist ein zentraler Punkt im Prozess.

Trauern Frauen und Männer unterschiedlich? Freilich gibt es Sätze wie "Männer trauern anders". Mir ist wichtig zu sagen: "Männer trauern als Männer." Es gibt den Unterschied meiner Erfahrung nach nur gesellschaftlich, denn die Geschlechter sind unterschiedlich sozialisiert. Männer hören früh, dass der Indianer keinen Schmerz kennt und dass sie das starke Geschlecht sind. Das prägt.

Trotz aller Appelle für ein offenes Trauern passen Tränen nicht in jede Lebenslage. Am Arbeitsplatz oder in der Schule ist es für manche Trauernde schwierig, ihre Emotionen zu zeigen. Und auch hier ist es wichtig, offen zu sein und einen Blick darauf zu haben, wie es Kollegen und generell Mitmenschen geht. Ich wünsche mir diese Offenheit in allen Lebensbereichen.