Er freue sich, hier in Radstadt das Buch präsentieren zu können, meinte der bekannte Menschenrechtsanwalt Philippe Sands: "Radstadt ist ein sehr spezieller Platz dafür, denn immerhin handelt ein Großteil des Geschehens daraus hier in Salzburg."
Elisabeth Schneider vom Kulturkreis Das Zentrum gelang es, Sands zu einer Buchpräsentation samt Lesung (Peter Arp) und einem von Mirjam Zadoff vom NS-Dokumentationszentrum in München moderierten Gespräch in das Zeughaus am Turm zu laden: In "Die Rattenlinie - Ein Nazi auf der Flucht" begibt sich der britische Jurist und Autor Sands auf die Spur eines der ranghöchsten österreichischen Nazis, nämlich des SS-Offiziers Otto Wächter.
Es ist auch eine Recherche darüber, wie sehr vieles aus dieser Zeit bis ins aktuelle Jahrhundert nachwirkt. Sands geht es in diesem Buch "nicht um eine Abrechnung mit den Gräueltaten der Nazis. Es ist eine Geschichte eines jungen, erfolgreichen Paares und eine Geschichte darüber, wie in einer Familie mit Schuld umgegangen wird."
Bei Recherchen lernte Sands, der Professor für internationales Recht am University College in London ist, vor rund zehn Jahren den Sohn von Otto Wächter kennen - Horst Wächter. Horst Wächter war trotz aller Fakten davon überzeugt, dass sich sein Vater angesichts der Umstände als NS-Politiker so korrekt wie möglich verhalten habe und "ein guter Nazi" gewesen sei. "Und nicht in Massenmord oder Geiselerschießungen involviert war." Daher erhielt Sands von Horst Wächter 10.000 Seiten Dokumente, Briefe und Tagebücher, "er wollte beweisen, dass sein Vater ein guter Mensch gewesen ist". Auf Basis dieser Unterlagen recherchierte Sands viele Jahre.
Im Konflikt mit der Familie
Auf dem Podium in Radstadt war auch die Enkelin von Otto Wächter, die Tochter von Horst Wächter. Sie, Friderica Magdalena Wächter-Stanfel, bekennt sich bisher als einziges der 23 Enkelkinder von Otto und Charlotte Wächter öffentlich zu den Gräueltaten ihrer Großeltern, womit sie im Konflikt mit ihrem Vater und dem Rest der Familie steht und sogar enterbt wurde, wie sie erzählte.
Sands berichtete von seiner mit großem Respekt getragenen Beziehung zu Ottos Sohn Horst Wächter. Eine Begegnung zweier Männer, die auf unterschiedlichen Seiten der Geschichte stehen - Sands verlor 80 Angehörige, für deren Tod Otto Wächter verantwortlich war.
"Das Schweigen in den Familien und in der Gesellschaft zu diesen Geschichten hilft niemandem weiter", betonte der Jurist, "es geht um Schuld, aber nicht um Rache. Es geht nicht darum, dass Nachkommen angeklagt werden. Aber es geht auch nicht, dass man nicht über diese Schuld spricht. Ich wollte auch keine Emotionen wiedergeben, sondern habe Material zusammengestellt. Die Leserin oder der Leser kann sich daraus selbst ein Bild machen."
Von der schweren Last des Schweigens
"Mein Vater wollte nie über diese Geschichte sprechen. Dieses Schweigen hat mich belastet", sagt Wächter-Stanfel, die Künstlerin, Lebens- und Sozialberaterin ist und eine Befreiung in der Kunst, "in einer Psychotherapie und im Islam fand", so ihre Worte zur schweren Last des Schweigens in der Familie. Sie habe darunter gelitten und sei bereits mit 18 Jahren dadurch schwer krank geworden: "Erst durch diese Aufarbeitung geht es mir besser." Auch ihre Eltern litten unter der Last der Vergangenheit, sie ließen sich schließlich scheiden, "meine Mutter ist depressiv geworden". Ihr mutiger Schritt in die Öffentlichkeit und auch das Buch haben Wächter-Stanfel persönlich geholfen, "bis vor fünf Jahren wusste ich noch gar nichts". Die persönlichen Dokumente und Liebesbriefe der Wächters geben Einblicke in die Nazi-Familie, lassen Raum für ihre Vorlieben, Musik- und Kunstsinn. "Sie taten monströse Dinge, aber waren keine Monster", so Sands, "Otto Wächter war in Verbrechen involviert und für den Tod einer halben Million Menschen verantwortlich. Das ist schmerzhaft, aber Familien und die Gesellschaft müssen darüber sprechen."
"Die Rattenlinie - Ein Nazi auf der Flucht"
Lügen, Liebe und die Suche nach der Wahrheit
Rattenlinien waren die Fluchtwege von gesuchten Nazis über Österreich und Südtirol nach Rom und von da - unter tätiger Mithilfe gewisser Kreise im Vatikan - ins sichere Südamerika.
Philippe Sands recherchierte über die Geschichte, Flucht und den Tod von SS-Offizier Otto Wächter, der nach drei Jahren Verstecken in unseren Bergen schließlich 1949 in Rom starb.