SN.AT / Leben

Auf der Suche nach uns selbst

Meditieren in den Dolomiten. Am Latemar lernen Urlauber Achtsamkeit - mit oder ohne psychologische Anleitung. Ein Selbstversuch.

Auf sich selbst besinnen, abseits der Wanderrouten, vor dem Latemar.
Auf sich selbst besinnen, abseits der Wanderrouten, vor dem Latemar.

Richten wir die Aufmerksamkeit auf die Klänge der Natur in diesem Moment. Ohne Etikettierung oder Bewertung, einfach hören."

So lautet die Anweisung von Thomas, unserem Psychologen. Wir, ein kleines Grüppchen Ruhesuchender, sitzen auf Baumstümpfen mitten auf der Alm, knapp 1900 Meter hoch auf dem Golfrion-Berg über dem Wintersportort Obereggen. Vor uns ragen die Felstürme des Latemar in den blauen Himmel. Es ist still. Sehr still. Und doch ist einiges zu hören, wenn man einmal richtig zur Ruhe gekommen ist und sich einzig und allein der "Achtsamkeit" widmet: Vögel zwitschern, Bienen summen, Grillen zirpen - und aus der Ferne ist das leise Brummen der Seilbahn zu hören.

Unterbrochen wird die sanfte Geräuschkulisse lediglich von einem leisen Glockenschlag, der immer dann erklingt, wenn Thomas mit einer neuen Meditation beginnt: "Jetzt beobachten wir unser Umfeld, Grashalme hier neben uns, bis zu den Bäumen in der Ferne im Tal. Versuchen wir die Bewegungen, die sich durch den Wind ergeben, wahrzunehmen. Alles um uns herum wird vom Wind bewegt, berührt. Wir können auch unsere Augen zum Himmel richten. Verspüren wir diese Bewegung, diese Veränderung, diese ständige Präsenz."

Thomas Bernagozzi hat den "Mindful.Latemar"-Weg konzipiert - den "ersten Mindfulness-Weg in den Alpen", wie der Psychologe betont. Mit den Übungen an den verschiedenen Stationen am Weg sollen die Urlauber hier im Südtiroler Eggental lernen, sich selbst besser wahrzunehmen und ganz in der Gegenwart zu verweilen.

Auf sich selbst besinnen, abseits der Wanderrouten, vor dem Latemar.
Auf sich selbst besinnen, abseits der Wanderrouten, vor dem Latemar.

Wir sind auf Almwiesen unterwegs, nicht weit weg von der Bergstation der Kabinenbahn Obereggen-Ochsenweide, aber doch entfernt genug von den beliebten und viel frequentierten Wanderwegen rund um den Latemar, um uns ungestört der Selbstbesinnung widmen zu können. Immer wieder betont Thomas die Bedeutung der "Achtsamkeit". Das bedeutet: Wir sollen uns auf das Hiersein, das Leben im Moment konzentrieren, die Wurzeln des Bodens spüren, den Fokus auf die Atmung legen, auf den Körper hören, mit den Gedanken nicht bei der Arbeit oder den Sorgen des Alltags sein, sondern einzig und allein hier, in dieser Bilderbuchlandschaft. "Alle Probleme bleiben unten im Tal", sagt er. "Schlechte Gedanken kommen wie Wolken, aber sie gehen auch wieder weg."

Klingt einfach, ist in der Praxis aber gar nicht so leicht. Kaum komme ich ein bisschen zur Ruhe, geht es los in meinem Kopf. Hätte ich nicht längst den Heizungstechniker anrufen sollen? Läuft nicht demnächst das Auto-Pickerl ab? Habe ich im Büro noch schnell den Abwesenheitsassistenten aktiviert?

Dass es anfangs schwierig ist, weiß auch unser psychologischer Wanderführer. Man müsse es eben immer wieder versuchen. "Jedes Mal, wenn wir uns abgelenkt fühlen, kehren wir zu diesem Lebensrhythmus zurück, wir beobachten den ganzen Atemzyklus, Einatmung, Ausatmung, ein und aus."

Nicht ganz einsam, aber schon wegen ihrer Ausblicke ein Erlebnis: die Rundwanderung über die Gamsstallscharte.
Nicht ganz einsam, aber schon wegen ihrer Ausblicke ein Erlebnis: die Rundwanderung über die Gamsstallscharte.

Ein leiser Glockenschlag - die Meditation ist beendet. Weiter zur nächsten Station. Diesmal sitzen wir auf dem Waldboden, machen die Augen zu und warten, ob wir außer der kühlen Hochgebirgsluft noch den einen oder anderen Blütenduft wahrnehmen, natürlich wie immer "ohne Etikettierung oder Bewertung". Eh schon wissen. Dann setzen wir mit verbundenen Augen einen Fuß vor den anderen, fühlen die Unebenheiten des Wiesenbodens.

So geht es zwei Stunden lang. Bei der letzten der 18 Stationen legen wir den Stein, den wir am Beginn der kleinen Seelenreise aufgehoben haben, wieder ab - und verabschieden uns so auch von einem belastenden Gedanken. So jedenfalls der Plan. Bin ich am Ende ruhiger, entspannter? Ein bisschen schon. Wenn man dauerhaft zur Ruhe kommen will, reicht ein zweistündiger Almspaziergang nicht. Immerhin: Das Bewusstsein für die Schönheit und die Laute der Natur hat die meditative Wanderung jedenfalls gestärkt.

Auf sich selbst besinnen, abseits der Wanderrouten, vor dem Latemar.
Auf sich selbst besinnen, abseits der Wanderrouten, vor dem Latemar.

"Mindful.Latemar" ist Teil eines Nischenprogramms für jene Südtirol-Urlauber, die einmal etwas anderes suchen, ein Kontrapunkt zum Wandergeschehen auf den viel frequentierten Wanderpfaden in den Dolomiten und zum Massentourismus am Karersee oder Pragser Wildsee. Zu diesem Programm gehören auch Sternen- oder Sonnenuntergangswanderungen. Etwa die einfache, weil nur einstündige Sonnenuntergangstour vom Parkplatz Jochgrimm in Deutschnofen auf das 2316 Meter hohe Weißhorn, den Corno Bianco. Nach leichtem Aufstieg auf dem Gipfel angelangt, belohnt die Wanderer ein herrlicher Ausblick auf Tal und ferne Bergketten, vor allem aber auf die Gipfel von Latemar und Rosengarten, die im Abendrot leuchten. Der Rosengarten macht seinem Namen Ehre.

Meditationsleiter Thomas Bernagozzi.
Meditationsleiter Thomas Bernagozzi.

Ebenfalls sehenswert: die spektakulären Felsformationen des Latemar selbst. Etwa bei der fünfstündigen Wanderung über die Gamsstallscharte hinauf zur 2671 Meter hoch gelegenen Latemarhütte und von dort auf der anderen Seite wieder hinunter ins Tal. Dieser Rundweg ist bei Urlaubern und Einheimischen sehr beliebt, allein auf weiter Flur ist man dort also so gut wie nie unterwegs. Der Weg durch diese surreal anmutende Steinwüste, vorbei an mächtigen Türmen und Kaminen, lohnt sich dennoch. Und wenn in den Almhütten am Weg gar zu viel Trubel herrscht, können Wanderer, die die Stille suchen, ja statt Speckjause und Wein noch die eine oder andere Station des "Mindful.Latemar"-Wegs besuchen - und eine Runde meditieren.

INFO & ADRESSEN

"Mindful.Latemar"-Wanderung:
18 Stationen, man kann sie in einer geführten Gruppe oder allein machen, indem man die dafür entwickelte App herunterlädt.

Achtsamkeitswoche:
Von 14. 6. bis 22. 6. 2025 bietet Eggental Tourismus eine "Achtsamkeits"-Woche an. Auf dem Programm stehen eine Sonnenuntergangswanderung zum Weißhorn, eine Sternenwanderung, eine Fackelwanderung zum St.-Agatha-Kirchlein und die Mindful.Latemar-Tour mit Thomas Bernagozzi.
Infos zu allen "Achtsamkeits"-Angeboten unter: www.eggental.com

Schlafen:
Wer bei der Unterbringung auf Nachhaltigkeit Wert legt und in WLAN-freien Schlafzimmern übernachten will, ist im Kräuterhotel Zischghof in Obereggen gut aufgehoben, www.zischghof.it