Beim Yin Yoga geht es nicht um Kraft. Wie die Neuinterpretation alter Lehren sowohl dem faszialen Gewebe als auch dem Gemüt guttut.
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Blöcke, Kissen und Decken unterstützen beim Yin Yoga dabei, Positionen nicht mit Muskelkraft halten zu müssen. So sollen tiefere Strukturen im Körper angesprochen werden.
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Blöcke, Kissen und Decken unterstützen beim Yin Yoga dabei, Positionen nicht mit Muskelkraft halten zu müssen. So sollen tiefere Strukturen im Körper angesprochen werden.
In Zeiten von Fitnesscentern und Power Yoga kennen viele Menschen die aus Indien stammende Lehre als dynamischen Wechsel unterschiedlicher Positionen, bei dem viel Kraft und Ausdauer gefragt sind. Eine ganz andere Seite des Yogas zeigt jedoch das Yin Yoga: Ganze drei bis fünf Minuten verharrt man dabei in einer meist liegenden oder sitzenden Position. Hier sollen genau nicht die Muskeln anspannen, sondern der Körper in einer dehnenden Übung fallen gelassen werden. Zur Unterstützung dienen dabei Polster und Blöcke.
Druck auf das tiefer liegende Fasziengewebe
"Yin Yoga kann man als eine Kombination aus Yoga und der Traditionellen Chinesischen Medizin verstehen", erklärt die Wiener Yogalehrerin Marianne Bauer. Denn die Meridiane, ein Begriff aus ebendieser alternativen Heilkunde, sollen mit dem Yogastil besonders angesprochen werden. "Durch das längere Verweilen in einer Position entsteht ein Druck auf das tiefer liegende Fasziengewebe", beschreibt Bauer weiter, "dort verlaufen die Meridiane, werden geöffnet und die Energie kann so wieder freier fließen." Vorstellen könne man sich das auch wie eine Akupunkturbehandlung ohne Nadeln.
"Es ist ein Gegengewicht zur Leistungsgesellschaft."
Marianne Bauer
Yogalehrerin
Doch auch ohne auf die Theorie der Meridiane zurückzugreifen, die wissenschaftlich nicht erwiesen ist, zeigt Yin Yoga Wirkung. "Unser fasziales Gewebe kann man sich vorstellen wie einen Schwamm voll mit gespeicherter Flüssigkeit", erklärt Bauer, "wenn wir Positionen einnehmen, mit denen wir diese Flüssigkeit quasi ausdrücken, saugt sich der Schwamm im Anschluss wieder voll und nimmt umso mehr Flüssigkeit auf. Das ist besonders von Vorteil, wenn man älter wird, um den Körper geschmeidig zu halten."
Ein junger Yogastil, basierend auf alten Theorien
Während Yoga selbst wohl auf eine etwa dreieinhalb Jahrtausend alte Geschichte zurückblickt, ist das Yin Yoga im Vergleich sehr jung. Es war der Yogalehrer Paul Grilley, der 1979 den Kampfsportler Paulie Zink kennenlernte und beeindruckt von dessen körperlicher Flexibilität und Geschmeidigkeit war. Grilley, einst in Gefilden von muskulär äußerst fordernden Yogastilen wie Ashtanga und Bikram Yoga unterwegs, wurde Schüler von Zink und lernte von ihm die besonders ruhige Seite der Bewegungskunst. Vom Japaner Hiroshi Motoyama, der sich mit der Beziehung zwischen Geist und Körper auf spirituelle Weise auseinandersetzte, erfuhr Grilley wiederum von der Theorie der Meridiane - und integrierte sie in seine Yogaschule. In den 1980er-Jahren erlangte das Yin Yoga zunehmend Bekanntheit, zunächst vor allem in den USA.
Blöcke und Kissen statt Muskelkraft
Drei bis fünf Minuten seien keinesfalls das zeitliche Limit der einzelnen Übungen im Yin Yoga, vielmehr könne man sie durchaus noch ausdehnen, sagt Bauer. Wichtig sei, ganz ruhig in den Positionen zu bleiben. "Beim Yin Yoga wollen wir auch in puncto Dehnung nicht gleich ins Maximum gehen, stattdessen begeben wir uns in eine erste Dehnung und schauen, wie unser Körper antwortet. Dann tasten wir uns langsam in die Dehnung hinein, das ist sehr wichtig", beschreibt die Yogalehrerin. Die Muskeln werden noch verwendet, um in eine Position hineinzukommen - in ihr selbst ruhen sie jedoch.
Als Beispiel nennt Bauer die Yogaübung Paschimottanasana, bei der die Beine im Sitzen ausgestreckt werden und der Oberkörper nach vorne wandert. Da es nur sehr flexible Menschen schaffen, den Oberkörper und den Kopf bei dieser Übung auf den Beinen abzulegen, können Blöcke und Polster dazu dienen, in dieser Position zu entspannen. Dem ähnlich ist ein weiteres Beispiel, das Bauer nennt, der Schmetterling: Bei diesem berühren sich die Fußsohlen im Sitzen, die Füße sind dabei nicht zu nahe am Becken. "Mit Blöcken oder Polstern kann man hier erstens höher sitzen, damit man sich leichter vom Becken aus nach vorne beugen kann, und zweitens die Knie unterstützen. Man lässt sich dann in die Vorbeuge sinken und die Schwerkraft und Langsamkeit dabei wirken."
Runder Rücken, Meditation und frische Energie
Gerade bei der Position des Schmetterlings zeige sich ein großer Unterschied des Yin Yogas zu anderen Yogastilen: Statt den Oberkörper und den Rücken aufrecht zu halten, dürfe, ja solle man sogar in einen Rundrücken gehen, sagt Bauer. "Wir wollen ja, dass auch die Muskeln in Nacken, Schultern und Rücken nicht mehr arbeiten müssen", beschreibt die Yogalehrerin. Allerdings weichen auch ein paar Übungen im Yin Yoga von dem Credo des Muskelentspannens ab. "Beispielsweise bei den Drachenpositionen brauche ich schon ein gewisses Maß an Kraft, damit ich sie halten kann. Doch diese Übungen stehen beim Yin Yoga nicht im Vordergrund." Weil es sich beim Yin Yoga um eine meditative Praxis handle, fühle man sich danach "sehr ruhig und gleichzeitig mit frischer Energie versorgt", beschreibt Bauer. Wie bei einer Meditation sei beim Yin-Yoga-Praktizieren entscheidend, Beobachter des eigenen Körpers zu werden. "Die Aufmerksamkeit wird nach innen gerichtet und ich beobachte, ohne zu bewerten." Besonders wenn man sonst sehr dynamisch unterwegs sei, brauche es erst einmal Zeit, um sich an diese Ruhe und zugleich Intensität zu gewöhnen. "Auch wenn Gefühle wie beispielsweise Langeweile aufkommen, nehmen wir das einfach nur wahr. Ein Gefühl taucht auf - es vergeht jedoch und dann kommt ein neues."
Der Ausgleich zwischen Yin und Yang
Die Wirkung auf das tiefer liegende fasziale Gewebe einerseits und die Hingabe an die Langsamkeit und Ruhe andererseits verleihen dem Yin Yoga auch seinen Namen. Während Yang nach der chinesischen Philosophie unter anderem für Kraft und Leistung steht, stellt Yin das Gegenteil dazu dar: Es bedeutet unter anderem Ruhe und Passivität. "In unserer Gesellschaft mit ihrer Leistungsorientierung dominiert Yang sehr, alles muss schnell gehen, immer höher, immer besser. Da ist Charisma gefragt." Das Yin verschwinde dagegen in eine gewisse Ecke, "die Energie der Introversion, des Nach-innen-Gehens". Um dem Trend der Gesellschaft ein Gegengewicht zu setzen, eigne sich Yin Yoga daher hervorragend. "Es ist eine sehr erdende Praxis, bei der man gut runterkommen kann." Allerdings empfiehlt Bauer definitiv, nicht nur auf Yin Yoga zu setzen, "andere, kraftvolle Yogastile oder auch dynamische Sportarten wie Laufen ergänzen es wunderbar".