Seit August 2017 gilt in Österreich eine Ausbildungspflicht für Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr. Fast neun Prozent der Schulpflichtigen straucheln laut Statistik Austria und Sozialministerium auf dem Bildungsweg. Sie schaffen den Pflichtschulabschluss nicht, haben teils starke Defizite im Rechnen, Schreiben, Lesen, sie brechen die Berufsausbildung ab, geraten ins Abseits, "hängen ab". Der Sozialbericht 2024 spricht von einem "hohen Risiko für Armut und soziale Ausgrenzung".
Die Dynamik setzt sich in der Adoleszenz fort. Die Rede ist von jungen Arbeitslosen, die keine Schulung machen und abzugleiten drohen, ihre Zahl steigt. Im Vorjahr waren 78.300 der 15- bis 24-Jährigen erwerbslos, das Coronajahr 2021 warf sogar 166.000 der 16- bis 29-Jährigen ins berufliche Nichtstun. Migrationshintergrund erhöht das Risiko, ein "Neet" ("Not in Education, Employment or Training") zu werden. In Wien lebten im Schnitt zuletzt 21.633 Junge (10,3 bis 11,3 Prozent) von AMS, Sozialamt oder Familie, so der Integrationsmonitor 2023 der Stadt Wien. Bei Jugendlichen aus Drittstaaten mit ausländischer Bildung beträgt der Anteil sogar 28 Prozent - europaweit gesehen hält Italien den Rekord mit 20 Prozent erwerbslosen Jungen.
Bildung als "Schutzfaktor" vor Langzeitarbeitslosigkeit und Altersarmut
Wie immer man die jungen Nichtstuer auch nennt - "Generation Neets, Erbe und Fun", "Mammoni" (Muttersöhnchen) oder "Bamboccioni" (Riesenbaby) - und welche Gründe auch immer zugrunde liegen: Nichtstun ist keine Perspektive für ein gutes Leben, heißt es auf der Website ausbildungbis18.at des Sozialministeriums. Mit dem Netzwerk Berufliche Assistenz wurden bundesweit Beratungsstellen geschaffen, die jährlich 35.500 Jugendliche erreichen.
Im Grunde sei alles, was über den Pflichtschulabschluss hinausgehe, ein Schutzfaktor vor Langzeitarbeitslosigkeit und Altersarmut, meint Florian Reiner, Projektleiter der Arge Jugendcoaching Tirol. "Um ein Leben gut und selbstständig führen zu können, braucht es finanzielle Sicherheit, eine Betätigung, die Freude macht, Zuversicht, dass man es schafft. Das Ziel ist persönliche und berufliche Qualifizierung, dabei helfen wir. Bildung hat ja viele weitere positive Begleiterscheinungen, für die Gesundheit, für das Zwischenmenschliche. Bildung tut der Gesellschaft gut", fasst Reiner lange erforschte Daten zusammen. Das Bemühen sei, einen Abbruch zu verhindern und konkrete Lösungen zu finden.
"Wir erarbeiten mit dem Jugendlichen Perspektiven und Handlungspläne. Wir schauen: Wo liegen die Kompetenzen, die Fähigkeiten? Wo gibt es am Ausbildungsmarkt Möglichkeiten? Oft braucht es einen Nachreifungsprozess, auch dafür gibt es Angebote. Oder es geht um eine verlängerte Lehre, wo die Jugendlichen für die gesamte Lehrzeit eine Ansprechperson haben. Auch dafür gibt es AMS-Förderungen und angepasste Lehrpläne", so Reiner.
Junge Menschen tun sich aus verschiedenen Gründen schulisch schwer
Einige haben körperliche Beeinträchtigungen oder eine Lernbehinderung, bei anderen sind es psychosoziale Probleme, psychische Krisen und beginnende Erkrankungen. Reiner: "Die Eltern sind natürlich prägend, aber auch die Peergroup beeinflusst junge Menschen stark. Es geht fast immer um Stress und Drucksituationen im privaten Bereich oder in der Schule. Die Heranwachsenden sind in einem Alter, wo sehr viele Veränderungen stattfinden. Das wirft sie manchmal aus der Bahn."
Das Hohelied von der Work-Life-Balance und Co.: Warum "scheitern" Jugendliche?
30 Prozent der betreuten Jugendlichen besuchen noch eine Schule, 70 Prozent sind bereits "systemfern". Bei straffällig gewordenen Jugendlichen gelte es, überhaupt einen Beratungszugang zu finden. Hier sind Justizbehörden, Bewährungshilfe, Sozialeinrichtungen eingebunden, man versuche, an einem Strang zu ziehen. Jugendliche, die eine höhere Schule besuchen, geraten oft in Schwierigkeiten, "wenn es im Elternhaus sehr unterschiedliche Vorstellungen gibt, was der junge Mensch tun soll, was er erreichen soll. Oft kommen diese Jugendlichen drauf, dass der Ausbildungsweg nicht die richtige Wahl ist."
Nicht jedes Scheitern ist auf ein "ungünstiges" Umfeld zurückzuführen
Auch gesellschaftliche Trends, wie das Hohelied von der Work-Life-Balance, mindern mitunter die Leistungsbereitschaft. Ja, das sei ein Thema, bestätigt Jugendexperte Reiner. Er höre von Lehrlingsausbildnern und Arbeitgebern durchaus: "Den freut es nicht, der bemüht sich nicht." Er sei froh über authentische Rückmeldungen, man rede klar mit dem Jugendlichen: "Schau, so kommst du an. Warum freut es dich nicht? Was ist deine Intention? Wir arbeiten ganz viel mit Praktika in der Wirtschaft. Oft kommt jemand zurück und sagt, das ist voll anstrengend, das habe ich mir nicht so vorgestellt. Dann fragt man, was war das Anstrengende, was taugt dir nicht? Diese Realüberprüfung führt zur Frage: Wie kann jemand nachreifen? Was fehlt?", erklärt der Sozialpädagoge und meint ergänzend: "Es gibt viele Jugendliche, die alles geben und trotzdem nicht alles schaffen. Nicht jeder hat die gleichen Fähigkeiten. Das Ziel ist, positive Lernerfahrungen zu machen, nicht in der Frustration stecken zu bleiben." Und oft sind es einfach nur die ganz normale Unsicherheit und fehlende Souveränität junger Menschen, die zu Missverständnissen und einer schlechten Dynamik führen: Wenn ein Berufsneuling "in Schockstarre" war, sich nicht getraut hat zu fragen, mundfaul oder schlecht drauf war an dem Tag, fehlt es häufig an jener inneren Fähigkeit, die auch viele Erwachsene nicht so gut draufhaben - an emotionaler Selbstregulation.
In der Ausbildungspflicht gelten Sanktionen und ein striktes, feinmaschiges Meldesystem. Wenn Jugendliche schwänzen, die Schule und Lehre abbrechen und binnen drei Monaten nichts unternehmen, melden Direktionen, AMS, Lehrlingsstellen oder andere Einrichtungen dies den Koordinierungsstellen der Länder. Die Eltern werden kontaktiert, sie können, wenn sie nicht kooperieren, Verwaltungsstrafen von 100 bis 1000 Euro erhalten.
Man erlebe natürlich die eine oder andere Ernüchterung. "Wir erreichen nicht alle", sagt Florian Reiner. Sein Kollege Johann Hechenblaikner, Diplomsozialbetreuer in der Behindertenarbeit und gelernter Kfz-Mechaniker, bricht eine Lanze für die Jungen mit Problemen: "Oft wird gesagt, die sollen halt arbeiten, die sollen sich anstrengen. Es ist in den seltensten Fällen so, dass Familien das System ausnutzen." Seine Schlussfolgerung: "Die Jugendlichen sind oft Symptomträger für die Krisen, die Verwirrung und Emotionalisierung der Gesellschaft, die wir gerade erleben."