JOURNAL BILDUNG

Neue Perspektiven alte Sorgen: Bildung nach zwei Jahren Pandemie

Wie hat sich der Stellenwert, die Bedeutung von Bildung in zwei Jahren Pandemie verändert? Dieser Frage gehen Bildungsforscher Martin Unger vom Institut für Höhere Studien (IHS) undBildungsphilosoph Matthias Steffel von der Universität Salzburg für die SN nach. Getan hat sich viel, so der Tenor, wie nachhaltig das ist, steht auf einem anderen Blatt. MICHAEL ROITHER

BILD: SN/FRAN KIESTOCK.ADOBE.COM

Die Relevanz der Bildungseinrichtungen ist deutlich geworden", sagt Bildungsforscher Martin Unger auf die Frage, ob sich der Stellenwert von Bildung durch die Pandemie verändert habe. Insbesondere jene von Kindergärten und Schulen, aber teilweise auch jene von Hochschulen. Außerdem sei klar geworden, dass Lehrkräfte ,,mehr tun, als nur Lateinvokabeln zu pauken", und Kindergärten mehr seien als Aufbewahrungs- und Spielstätten", sondern wichtige Bildungseinrichtungen, in denen Lebenskompetenzen erlernt und wichtige soziale Effekte erzielt werden. In anderen Sprachen würden Kindergärten das Wort ,,Schule" bereits im Namen tragen, meint Unger - mit entsprechend positiven Folgen. Davon sei man in Österreich immer noch ein gutes Stück entfernt.

Stellt sich die wichtige Folgefrage: Wie nachhaltig ist die neu erkannte Relevanz? Kaum gegeben, fürchtet Unger, vor allem wenn es um eine Aufwertung der Rolle des Lehrpersonals und dessen Bezahlung gehe. ,,Da braucht es viel Nachdruck", sonst verlaufe das wieder im Sand.

Unger zieht auch erste Schlüsse aus der Digitalisierungswelle im Unterricht: Die Umstellung sei erstaunlich reibungslos erfolgt, von notwendigen (und in der Regel leider privat zu finanzierenden) Equipment-Investitionen der Lehrenden bis zu Infrastrukturausbauten bei den Bildungseinrichtungen. Auch didaktisch habe vieles funktioniert, wenngleich klar geworden sei: ,,Onlineunterricht kann vor allem Schule, aber teils auch Hochschule nicht vollständig ersetzen.“ Die bereits durch erste OECD-Studien beklagten Lerndefizite auch in Österreich betrachtet er differenziert, hier sei teilweise nicht zielführend verglichen worden. Sicher sei aber, dass der informelle Kontakt zwischen Schülern und Studierenden fehle. Für Letztere sei an der Universität das erste Semester sehr wichtig, um Kontakte zu 1 knüpfen, Lerngruppen zu organisieren und vieles mehr. Diese Dinge sind in den letzten beiden Jahren der Pandemie zum Opfer gefallen, mit zu erwartenden Effekten für den Studienerfolg. Die Prüfungsaktivität der Studierenden sei zwar beispielsweise laut Zahlen der Universitäten in der - letzten Zeit gestiegen, das könne aber pandemiebedingt auch wieder zurückgehen.

BILD: SN/IHS
„Für das Treffen der Freunde nimmt man Mathe in Kauf."
Martin Unger, IHS

Die Bedeutung von Bildung habe in Österreich auch bedingt durch den Fachkräftemangel zugenommen, sagt Bildungsforscher Unger. Die Unis hätten, ähnlich der Phase nach der Wirtschaftskrise 2008/2009, einen unheimlichen Run erlebt. Dieser sei diesmal noch stärker gewesen, obwohl es mehr Studien mit Zugangsbeschränkungen gibt. Bei aufgrund der Kurzarbeit relativ stabilem Arbeitsmarkt wurden dennoch nicht viele Maturantinnen und Maturanten neu eingestellt. Diese haben sich dann ganz entgegen dem Mythos der faulen Jugend" vielfach für ein Studium entschieden. Besonders Studien, die bei Unentschlossenheit oft gewählt werden, wie Betriebswirtschaft oder Recht, hätten bis zu 25 Prozent mehr Beginner verzeichnet. Insgesamt habe es bei inländischen Studierenden ein Plus von zwölf Prozent gegeben. Zwar würden sie möglicherweise bei veränderten Arbeitsmarktbedingungen zu Studienabbrechern werden - aber „immerhin mit einem Jahr universitärer Ausbildung". Im aktuellen Wintersemester hat sich der Run gelegt, insgesamt auf Vor-Corona-Niveau, wobei die Details offen sind: Da immer noch deutlich weniger internationale Studierende nach Österreich kommen, dürfte es immer noch mehr inländische Studienbeginner als vor der Krise geben.

Bei der Frage, inwieweit der gestiegene Stellenwert der Bildung auch bei der Politik angekommen ist, bleibt der Bildungsforscher skeptisch. „Aber immerhin ist den Schülerinnen und Schülern klar geworden, dass die Schule auch wichtig ist, um Freunde zu treffen, und dafür nimmt man dann auch Mathe in Kauf." Vergessen würden bei der Betrachtung von Bildung oftmals die Lehrlinge: ,,Dort ist die Lage noch deutlich schwieriger. Viele müssen in den Betrieben auch praktische Arbeiten machen, um den Abschluss machen zu können, was nun sehr viel schwieriger ist in vielen Branchen." Man finde zwar offenkundig immer wieder pragmatisch Lösungen, dennoch sollte auch hier genauer hingeschaut werden, so Unger.

Das Problem dass Bildung sei in Österreich, bei kaum einer Wahlentscheidung eine Rolle spielt", moniert der Bildungsforscher. Ganz anders als in anderen Ländern, in Deutschland könnten durch Bildungsthemen bis zu zehn Prozent der Wählerstimmen verschoben werden. „Denken wir nur an die neue Technische Universität in Linz, die erste Neugründung in dieser Form seit Jahrzehnten das Thema wird kaum in der Öffentlichkeit diskutiert, und wenn, dann hauptsächlich kritisch. In Bayern investiert man zwei Milliarden Euro in eine neue Technische Universität in Nürnberg und der Ministerpräsident trommelt überall, wie toll das ist."

Entsprechend geht Martin Unger davon aus, dass nach dem momentanen Hoch in der Diskussion über Bildungsthemen wieder eine Talfahrt folgt - leider". Wenn Bildungsthemen breiter diskutiert würden, schwappten diese vor allem aus dem Ausland über oder sie kämen über andere Themen wie den Arbeitsmarkt aufs Tapet. ,,Deshalb kann man hierzulande auch gefahrlos parteifreie Minister in diesem Ressort einsetzen, als Regierung - beim Finanzministerium wird das wohl noch eine Weile dauern."

BILD: SN/PRIVAT
,,Die Pandemie bietet die Chance, Bildung neu zu denken."
Matthias Steffel, Uni Salzburg

Mehr Hoffnung hat Matthias Steffel, Bildungsphilosoph und Utopieforscher an der Universität Salzburg - allerdings in eine andere Richtung gehend: dass nämlich durch die Pandemie Fragen im Bildungssystem, die als beantwortet galten, neu gestellt würden. „Die Pandemie hat alle Lebensbereiche so durchgerüttelt, dass auch der Bildungsbereich stark betroffen war und ist. Wir waren die vergangenen Jahrzehnte damit beschäftigt, Bildung effektiver und effizienter zu machen - das hat die Pandemie über Nacht ausgehebelt und Herausforderungen erzeugt, deren Ausmaße wir im Detail noch gar nicht kennen. Damit einher geht aber auch die Chance, Bildung neu zu denken."

Kritisch sieht Steffel beispielsweise die Diskussion um die ,,verlorene Generation", was Bildung betrifft: ,,Für wen eigentlich - die Wirtschaft? Da gibt es Leistungsanforderungen, die man durchaus auch hinterfragen kann." Vieles, das bereits ,,ausgemacht" erscheine, wenn es darum geht, wie die Welt zu funktionieren hat, sei eben nicht so ,,ausgemacht". Entsprechend seien auch der Aufbruch des Bestehenden, die Verunsicherung und teils auch die Uneinigkeit aus einer bildungsphilosophischen Perspektive nicht nur negativ zu bewerten, meint Steffel. „Es ließe sich von Neuem darüber nachdenken, wie sich Bildung vollzieht und wie Bildungsprozesse pädagogisch unterstützt werden können. Das alles kann dazu führen, dass wir darüber nachdenken, welche Bildungsideale wir überhaupt verfolgen und warum." Die Gesellschaft sei letztlich auf die Grundfrage zurückgeworfen worden: ,,Welche Art von Bildung ist sinnvoll? Was brauchen wir? Heute bezogen auf eine globale Welt, die anfällig ist für Pandemien, also verletzlich ist. Passt unsere Vorstellung, wie Bildungseinrichtungen organisiert sind und funktionieren, dazu?"

Die psychischen Belastungen seien bei Schülerinnen und Schülern jedenfalls stark angestiegen - als ein Aspekt in der Beantwortung dieser Fragen. „Jemand, der zehn Jahre alt ist, hat ein Fünftel seines Lebens in der Pandemie verbracht, bei der die eigene Verletzlichkeit, aber auch die von anderen, wie der Familie oder von Freunden, omnipräsent war. Es wäre zu hoffen, dass hinsichtlich der Vulnerabilität von Menschen ein sensibleres und differenzierteres Bewusstsein in der Gesellschaft entsteht." Denn die Pandemie sei nur ein Beispiel dafür das nächste Thema sei etwa der Klimawandel. ,,Wir sind klar erkennbar endlich und es hat auch rational Sinn, wenn wir menschliches Leben auch auf längere Sicht schützen und uns solidarisch mit heranwachsenden Generationen zeigen."