Mit ihrem Therapiehof möchte Nicole Haderer Kindern und Jugendlichen eine Auszeit bieten. Sie erklärt, warum das gerade heute so wichtig ist.

Im Reit- und Therapiezentrum in Nußdorf am Haunsberg von Nicole Haderer kommen Kinder und Jugendliche in Kontakt mit Pferden und lernen den richtigen Umgang mit ihnen. BILDER: SN/SCHNABLER
Auf einmal bleibt das Pferd stehen. Gerade noch im gemütlichen Tempo unterwegs gewesen, macht der Vierbeiner nun keinen weiteren Schritt mehr. ,,Warum, denkst du, hat das Pferd gerade angehalten?", fragt Nicole Haderer das Mädchen, das die Zügel in der Hand hält. Die Antwort des Kinds kommt prompt: „Ich habe gerade über etwas nachgedacht, was mich sehr gestresst hat." Eine andere Szene: Der Schimmel wirkt nervös und unruhig. Für Haderer kein Zufall. Das Kind, das ihn an der Longe hält, leidet unter Hyperaktivität. Je länger das Kind in der Nähe des Vierbeiners ist, desto ruhiger wird es - und so auch der Schimmel. Es sei immer wieder erstaunlich, wie deutlich ein Pferd das Seelenleben eines Menschen widerspiegle, erzählt die 42-Jährige. „Die Tiere spüren, wie es uns geht, und bemerken jede Veränderung in unserer Körpersprache. Und sie reagieren darauf."
Nicole Haderer ist ausgebildete Heil-, Moto- und Traumapädagogin mit Spezialisierung auf die Therapie mit Pferden. Mit dem Reit- und Therapiezentrum Mensch und Pferd in Nußdorf am Haunsberg erfüllte sich die ehemalige Großgmainerin ihren Lebenstraum. Kinder und Jugendliche mit körperlichen, geistigen und psychischen Beeinträchtigungen gehen auf ihrem Hof ebenso ein und aus wie auch gesunde. Das Reitenlernen steht dabei nicht im Vordergrund. ,,Die Kinder und Jugendlichen lernen, wie sie mit Pferden richtig umgehen, wie sie ihre Körpersprache lesen können", berichtet Haderer. Dabei lernten sie nicht nur über die Pferde, sondern auch über sich selbst eine ganze Menge, erklärt Haderer. Wenn die Kinder dann im Sattel sitzen, habe das weitere therapeutische Effekte: Körperlich, weil dabei der Psoas durch die Bewegung des Pferds gut bearbeitet werde. Der Muskel, der Wirbelsäule und Beine miteinander verbindet, ist für zahlreiche Aufgaben im Körper zuständig, so auch, um die Wirbelsäule und lebenswichtige Organe im Unterbauch zu stabilisieren. Psychisch, weil es die Selbstachtsamkeit und Selbstwirksamkeit stärke, die Zügel in der Hand zu halten und dem Vierbeiner zu signalisieren, wo es hingehen soll. ,,Außerdem bauen die Kinder und Jugendlichen Vertrauen zum Pferd auf, sie können sich von ihm getragen fühlen."

Die Erkenntnis darüber, wie heilsam der Kontakt zu Pferden und das Reiten sein können, ist eine alte: Bereits der griechische Arzt Hippokrates beschrieb etwa 400 vor Christus die heilende Wirkung des Reitens. Während in den folgenden Jahrhunderten eher die gesundheitsfördernde Wirkung des Reitsports im Fokus stand, konzentrierte sich der deutsche Arzt Max Reichenbach in den 1950er-Jahren darauf, Reiten systematisch als Therapieform zu verwenden. Seit 1970 gibt es das Kuratorium für Therapeutisches Reiten in Deutschland, seit 1977 das Österreichische Kuratorium für Hippotherapie, Pferdetherapie.
Die Probleme, mit denen Kinder und Jugendliche auf Haderers Hof kommen, sind vielfältige. Während ein Kind im Rollstuhl sitzt, leidet ein anderes unter selektivem Mutismus, kann vor anderen Menschen als Familie und Freunden kein Wort sprechen. Immer häufiger seien es psychische Beeinträchtigungen, die die Eltern dazu bewegen, ihre Kinder beim Hof anzumelden. ,,Viele leiden mittlerweile unter der Angst vor der Schule und dem Leistungsdruck", berichtet Haderer. Noten, Leistung, Stress - von diesen Themen möchte die Pädagogin auf ihrem Hof eine Auszeit bieten. Sie kennt den heilsamen Effekt der Pferde aus eigener Erfahrung. ,,Gerade in der Pubertät war ich sehr unsicher und schüchtern. Ohne die Pferde wäre ich wohl in ein Loch gefallen." Mit 16 macht Haderer ein Praktikum in einer Behindertenwerkstatt. Ein Jahr später beginnt sie ihre Ausbildung zur Heilpädagogin bei einem Wohnheim für Menschen mit Beeinträchtigungen. Noch während dieser Zeit erhält sie die Erlaubnis, ein Mädchen mit Autismus mit zu ihrem Pferd zu nehmen. Und tatsächlich: Dem Mädchen, das sich einst seine Haare ausriss, geht es immer besser, der Kontakt zum Vierbeiner tut ihm sichtlich gut. „Da war für mich klar, dass ich genau das beruflich machen möchte."



Nach der Grundausbildung zur Heilpädagogin macht sich Haderer mit weiteren Ausbildungen als Reittherapeutin selbstständig. Dazu gehört auch der Lehrwart für integratives Reiten. ,,Von Anfang an war mein Traum: Ein Hof, auf dem Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichsten Problemen zusammenkommen und nicht nur lernen, mit Pferden umzugehen, sondern auch, sie selbst sein zu dürfen."
Einige Jahre stellt Haderer ihre Pferde bei anderen Höfen unter und bietet dort Reittherapie an. Vor 13 Jahren findet sie schließlich ihren Traumhof, in Nußdorf am Haunsberg, nahe Oberndorf. Sie bekommt die Pacht für das weitläufige Grundstück mit Wohnhaus, Stall, Reithalle und Koppeln. Gemeinsam mit ihrer Mutter renoviert sie die Anlage. Der Traum hat sich erfüllt: Kinder und Jugendliche kommen auf ihrem Hof zusammen, striegeln die Pferde, führen sie an der Longe und steigen in den Sattel. „Wenn ich hier bin, kann ich meine Sorgen vergessen", erzählt die elfjährige Franziska. „Ich kann hier einfach spielen und machen, worauf ich Lust habe", sagt die zwölfjährige Sarina.
Der Alltag auf dem Hof ist für Nicole Haderer und ihre Mutter ein arbeitsreicher: Um sechs Uhr morgens spätestens geht es los mit Füttern und Ausmisten, in Folge muss gekocht, die Kinder betreut, der Garten gepflegt, die Buchhaltung erledigt, Sponsoren aufgetrieben werden. Bis auf eine Reitlehrerin, die für ein Jahr gesponsert wurde, gibt es keine Angestellten. Zehn Pferde und Ponys sowie Katzen, Hunde und Hühner gilt es zu versorgen. Bei den Feriencamps im Sommer ist ihre Pflege auch die Aufgabe der Kinder und Jugendlichen. ,,Immer zwei haben neben einem Pflegepferd auch gemeinsam ein weiteres Pflegetier, um das sie sich kümmern", erklärt Haderer. Verantwortungsbewusstsein und ein Gefühl dafür, wie es dem anderen Tier geht, sollen so vermittelt werden. Bis zu sieben Kinder können während des Camps am Hof übernachten. Ein Mal im Monat bietet Haderer auch ein Wochenende lang an, Kinder mit Beeinträchtigungen am Hof zu betreuen, ,,sodass die Eltern einmal eine Pause machen können". Für ein paar Wochen können Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen auch unter dem Jahr auf dem Hof wohnen. Unter der Woche findet das ganze Jahr über der reguläre Reittherapiebetrieb mit etwa 40 Kindern und Jugendlichen in der Woche statt. Auch Sonderschulklassen sind immer wieder auf dem Hof.
Nach Bandscheibenvorfällen durch die harte Arbeit am Hof und der schweren Krise durch die Coronapandemie seien es keine rosigen Zeiten, auf die Haderer zurückblickt. Doch die Erlebnisse in ihrer täglichen Therapiepraxis ermuntern sie weiterzumachen. „Einmal haben wir einen Jungen mit Autismus gehabt, der nicht richtig gegessen und geschlafen hat", berichtet sie. „Doch auf dem Rücken eines Pferds ist er dann eingeschlafen. Und als er dem Pferd beim Fressen zugesehen hat, hat er begonnen zu essen."
Das Wohl der Pferde liegt Haderer am Herzen. Jedes Tier komme nur zwei Mal täglich zum Einsatz. ,,Den Rest der Zeit sind sie im Offenstall und, wenn das Wetter passt, auf der Koppel." Alle Pferde haben mindestens zwei Jahre Ausbildung bei Haderer durchlaufen. Der Charakter des Vierbeiners spiele eine große Rolle dabei, ob sich ein Pferd eignet oder nicht. Es sei gut, wenn es in sich ruht und doch deutlich kommuniziert, was in ihm vorgeht. ,,Dann können die Kinder lernen, das Pferd zu verstehen - und schließlich auch sich selbst." - CHRISTINE GNAHN