Die Fotografin Marion Kalter zeigt unverfälschte Blicke auf Persönlichkeiten, die Kunst und Kultur der vergangenen Jahrzehnte geprägt haben. Auch ihre Fotografien der Festspiele tragen ihre Handschrift.

BILDER: SN/MARION KALTER
Keine Fotos stellen, sondern Situationen und Menschen so erfassen, wie sie sind: Das ist das Ziel, das die Fotografin Marion Kalter seit fast 50 Jahren verfolgt. Im Laufe dieser Zeit bekam die Französin mit österreichischen und amerikanischen Wurzeln zahllose Berühmtheiten vor die Linse, darunter viele Musikerinnen und Musiker. Auch die Salzburger Festspiele besucht Kalter seit Jahrzehnten, um dort mit Schnappschüssen das Geschehen aufzufangen. Im Interview berichtet die Künstlerin von ihrer Geschichte, ihrer Fotografie und ihrem persönlichen Bezug zu Salzburg - wo sie 1951 zur Welt kam.

Frau Kalter, wie und wann haben Sie zur Fotografie gefunden?
Marion Kalter: Meine künstlerischen Tätigkeiten haben mit der Malerei begonnen. Ich habe Malerei in Amerika studiert. Dann, im südfranzösischen Arles, bin ich mit Fotografie in Berührung gekommen. Dort gibt es ein bekanntes Treffen von Fotografen aus aller Welt, die Rencontres de la Photographie. Ich habe damals in einer der ersten Galerien Frankreichs gearbeitet, die sich mit der Fotografie auseinandergesetzt haben, und über diesen Job bin ich als Dolmetscherin zu dem Treffen gelangt. Mein Vater war Amerikaner, meine Mutter Österreicherin und ich bin in Frankreich aufgewachsen, insgesamt spreche ich fünf Sprachen, Französisch, Englisch, Deutsch, Italienisch und Spanisch. Bei den Rencontres habe ich von fantastischen Fotografen gelernt. Mit 21 habe ich zum Abschluss meines Bachelors einen Fotoapparat geschenkt bekommen - ich war neugierig und wollte festhalten, was ich um mich herum gesehen habe. Zwei Jahre später habe ich den amerikanischen Dichter und Musiker Ted Joans kennengelernt, der mir die Welt der Kunst und Musik gezeigt und mich zur Fotografie gebracht hat. All diese Erfahrungen haben in mir gearbeitet. Meine Mutter ist gestorben, als ich 16 war. Mit 23, in den 70er-Jahren, habe ich zu fotografieren begonnen als Werkzeug, um meine Vergangenheit zu verarbeiten. Ich bin in das Haus im Dorf Le Pont-Chrétien-Chabenet, kurz Chabenet, zurückgekehrt, in dem ich aufgewachsen bin, und habe dort Selbstporträts angefertigt. Ich habe den Selbstauslöser getätigt, mich hingesetzt und gewartet. Auch Haus und Umgebung habe ich fotografiert.

Sie haben in weiterer Folge viele bekannte Persönlichkeiten fotografiert, darunter auch große Frauen in der Kunst - wie kam es dazu?
Als Amateurfotografin muss man sich fragen, wie man das zu einem Beruf machen kann. Meine Magisterarbeit war da ein wichtiger Ansatz. Ich habe dafür Frauen interviewt und fotografiert, die in der Kunst tätig waren, darunter Filmemacherinnen, Musikerinnen und Fotografinnen. Das waren zum Beispiel Gisèle Freund, Meret Oppenheim, Agnès Varda, Susan Sontag und Anaïs Nin. Mich hat interessiert, wie Frauen es schaffen, gleichzeitig eine Familie zu haben und Künstlerinnen zu sein. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der üblich war, dass Frauen zu Hause bleiben. Die wenigsten sind nach draußen gekommen, um ihr eigenes Leben zu führen. Anders als die Frauen in meiner Magisterarbeit, die ich sehr bewundert habe: Denn viele von ihnen haben Familie und Kunst miteinander verbinden können. Bei dem Interview mit Agnès Varda ist ihr kleiner Sohn die ganze Zeit um das Bett gehüpft, daran kann ich mich noch gut erinnern.
Wie haben Sie es geschafft, diese namhaften Persönlichkeiten vor die Linse zu bekommen?
Ich habe immer eine gute Beziehung zu Menschen gehabt und oft hat sich eines aus dem anderen ergeben. Ich habe beispielsweise bei der Eröffnung eines Museums fotografiert und bin dabei mit vielen Menschen ins Gespräch gekommen, die ich in weiterer Folge fotografisch porträtiert habe. Durch Ted Joans bin ich in Kontakt mit Musikerinnen und Musikern gekommen, die ich ebenfalls fotografiert habe, und in weiterer Folge habe ich begonnen, für eine Musikzeitschrift zu arbeiten. So wurden das Fotografieren von und das Schreiben über Musiker zu meinem Beruf, allerdings immer freischaffend.

Was war Ihr persönlicher Anspruch dabei, die Menschen zu fotografieren?
Das Wichtigste ist immer die Neugierde, die ich wahrscheinlich von meinem Vater geerbt habe. Er hat sich für sehr vieles interessiert. Ich kann nicht genau erklären, was mein Interesse für Menschen ausmacht - ich beobachte einfach gerne und überall. In meinen Fotos möchte ich das Intime, das Versteckte auffangen. Ich will nicht, dass sich die Person von ihrer schönsten Seite präsentiert oder für das Foto anfängt zu lächeln. Damit würde man nur an der Oberfläche bleiben. Die Kunst eines Porträts ist, dass es den Menschen in seiner Essenz, seinem wirklichen Wesen zeigen soll, das ist das Schwierige. Beim Fotografieren will ich immer sehr nahe am Menschen dran sein, als wäre ich selbst Teil der Szene, nur zufällig da. Mich haben auch immer besondere Persönlichkeiten fasziniert. In Triest habe ich den slowenischen Schriftsteller Boris Pahor kennengelernt und viel Zeit mit ihm verbracht. Boris Pahor hat fünf KZs und die Spanische Grippe überlebt. Als er 106 Jahre alt war, habe ich ihn fotografiert. Mit fast 109 ist er nun kürzlich verstorben. Die Zeit mit ihm war für mich eine besondere.
Wo haben Sie gelernt, so zu fotografieren, wie Sie es tun?
In der Fotoschule bei den Rencontres in Arles habe ich viel gelernt. Nicht nur, wie man fotografiert, sondern wie man sieht. Es geht nicht nur darum, welche Linse für welche Gelegenheit zu verwenden ist, sondern darum, das Sehen zu schulen und dieses Sehen in etwas Seelisches umzusetzen. Da habe ich auch viel über das Tun gelernt. Ob man malt oder fotografiert, es ist immer eine gewisse Art des Beobachtens. Man muss sehr schnell und konzentriert sein, eine Neugierde haben für das, was rundherum ist. Der Moment vergeht so schnell, es ist wie etwas Magisches, das vor den eigenen Augen gerade passiert ist.


Sie haben schon oft auf den Salzburger Festspielen fotografiert. Was waren hier Ihre Eindrücke?
Zum ersten Mal wurde ich 1984 für die französische Zeitschrift „Le Monde de la Musique" beauftragt, bei den Salzburger Festspielen zu fotografieren. Ich habe damals zwei, drei Wochen in Salzburg verbracht. Das Wichtige war immer schon, die Erlaubnis zu bekommen, diese Fotos zu schießen und sich auch hinter Bühne und Kulissen aufhalten zu dürfen. Ein paar Jahre später wurde Gerard Mortier Intendant, er hat das ganze Klassische der Festspiele umgewühlt und Modernes hineingebracht. Menschen aus der ganzen Welt, die Musik und das Progressive liebten, kamen deswegen nach Salzburg. Ich kannte Mortier schon aus Frankreich und Belgien und habe an das Büro der Festspiele geschrieben, ob ich dort fotografieren darf. Daraufhin habe ich von Wolfgang Schaufler aus dem Pressebüro die Erlaubnis erhalten, hinter der Bühne zu fotografieren, und das habe ich dann jahrelang getan. Die Salzburger Festspiele sind der ganzen Welt ein Begriff, was zeitgenössische und klassische Musik betrifft, und so konnte ich dort unzählige Persönlichkeiten fotografieren.

Sie wurden in Salzburg geboren, haben aber nur kurz dort gelebt. Haben Sie eine Verbindung zu Salzburg?
Ich liebe Salzburg. Es ist noch immer sehr provinziell, wie ein roher Diamant, absolut einzigartig. Jeder sucht hier die Sommerfrische, man ist schnell in der Natur. Das Angenehme der Provinz ist ja, dass dort nur eine kleine Gruppe von Menschen ist, man trifft sich rasch und zufällig. Ich werde auch dieses Jahr wieder nach Salzburg kommen, ich weiß aber noch nicht, wie und was ich fotografieren werde. Es ist immer schwieriger geworden, hinter den Kulissen zu fotografieren, nicht zuletzt seit Covid-19. Ich plane eine Ausstellung wie auch ein Buchprojekt über die Festspiele. Zudem war meine Mutter aus Wien, dadurch bin ich Österreich natürlich kulturell nahe. Während der Festspiele in Salzburg habe ich außerdem meinen Lebensgefährten kennengelernt, seitdem habe ich noch mehr Bezug zu Salzburg.
In der Ausstellung ,,Deep Time" im Museum der Moderne waren kürzlich viele Ihrer Fotografien zu sehen. Einige zeigen Gegenstände aus Ihrer Kindheit. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, diese abzulichten?
Das Haus in Chabenet, in dem ich aufgewachsen bin, habe ich noch immer. Ich bin Einzelkind und meine beiden Eltern sind gestorben, es ist dort außer mir niemand mehr aus der Familie. Am Dachboden stehen Koffer, die über 50 Jahre nicht geöffnet worden sind. Es war, als hätten sie nur darauf gewartet, dass ich sie entdecke und wiederbelebe aus ihrem Dornröschenschlaf. Indem ich all diese Gegenstände fotografiert habe, habe ich mich mit meiner Vergangenheit auseinandergesetzt und sie verarbeitet. ,,Deep Time" ist auch der Titel von einem meiner Bücher. Es ist der wissenschaftliche Begriff für geologische Schichten. So habe ich die Zeitschichten meines Lebens aufgenommen. Es war eine fantastische Möglichkeit, mich von meiner Vergangenheit zu distanzieren und zu sehen, was ich gemacht habe und wie ich weitermachen möchte. Auf dem Cover von „Deep Time" ist übrigens ein Foto meines Vaters - auch ihn habe ich oft fotografiert und viele Jahre bis zu seinem Tod begleitet.

Was waren weitere Erlebnisse als Fotografin und Künstlerin, die Sie besonders geprägt haben?
Der Onkel meines Vaters ist 1940 aus Deutschland mittels der Transsibirischen Eisenbahn ausgewandert. Diese Reise habe ich nachgemacht und dabei viel fotografiert. Ich wollte nachfühlen, was er erlebt hat. 30 Jahre lang habe ich wiederum den Komponisten Pierre Boulez begleitet, er ist ein großer Intellektueller gewesen. Aber natürlich sind es auch die vielen einzelnen Begegnungen mit all den Musikerinnen und Musikern, Künstlerinnen und Künstlern, die ich im Laufe der vielen Jahre kennengelernt und fotografiert habe. Ich habe mittlerweile ein riesiges Archiv an Fotografien und dabei handelt es sich nicht um die üblichen Fotoszenen, die man normalerweise in der Zeitung zu Gesicht bekommt. Als Freischaffende war ich für viele Zeitungen und Zeitschriften tätig, darunter auch ,,Le Monde" und „European Photography". Für meine Fotos war und bin ich noch immer viel auf Reisen in der ganzen Welt.
Definieren Sie sich mehr als Journalistin oder als Künstlerin?
Lange Zeit habe ich mich als Journalistin gesehen und daher auch keine Ausstellungen entworfen. Erst im Laufe der Jahre hat sich entwickelt, dass ich mich auch als Kunstschaffende gefühlt und definiert habe. So habe ich in den 1980er-Jahren damit begonnen, nach und nach parallel meine eigenen Arbeiten entwickelt.
Sie haben bereits erzählt, dass Sie ein Buch über die Salzburger Festspiele planen. Haben Sie weitere Pläne im Auge?
Meine Großmutter ist 1907 für ihre Hochzeitsreise von Wien nach Norwegen gefahren und hat dabei Briefe an ihre Schwester geschrieben. Sie beschreibt, wie die Menschen auf die Kutsche gegangen sind und wie es in dieser Zeit war, unterwegs zu sein. Diese Reise möchte ich gerne - ähnlich wie mit der Transsibirischen Eisenbahn - nachmachen. Dabei möchte ich Fotos aufnehmen und zeigen, wie sich das Leben und die Welt in 115 Jahren entwickelt und verändert haben. Es wird keine Erklärung dabei stehen, die Fotos sollen für sich sprechen. CHRISTINE GNAHN
ZUR PERSON
Marion Kalter wurde als Tochter eines Amerikaners und einer Österreicherin in Salzburg geboren, wuchs aber überwiegend im französischen Dorf Chabenet in der Region Centre-Val de Loire auf.
Ihr Interesse für die Malerei brachte sie als junge Studentin zur Fotografie. Viele Künstlerinnen und Künstler inspirierten sie auf diesem Weg, allen voran der Jazzpoet Ted Joans. Als freischaffende Fotografin arbeitete Marion Kalter viele Jahre lang für eine Musikzeitschrift.
Besonders wichtig ist der Französin damals wie heute, Gegebenheiten und Menschen nicht in Szene zu rücken, sondern so darzustellen, wie sie tatsächlich sind - als wäre keine Kamera da gewesen.