Anziehungskraft. Die Faszination der Kunst für die Unterwelt ist ein Thema der Ausstellung „Nervös und böse".

Walter Navratil, „Tod auf der Straße", 1972, aus dem Zyklus „Al Capone". BILD: SN/MDMS/RAINER IGLAR
Sie hat keine idyllischen Aussichten zu bieten. Und trotzdem ist die Unterwelt für die Kunst stets ein Ort mit großer Anziehungskraft gewesen. Sogar die Operngeschichte beginnt mit einem Weg ins Totenreich. Im Jahr 1607 schuf Claudio Monteverdi mit seinem Bühnenwerk „L'Orfeo" einen frühen Meilenstein des Genres. Im 20. Jahrhundert wiederum galt der größte Unterweltboss als glühender Opernliebhaber. Al Capone war nicht nur als archetypischer Gangster berüchtigt, sondern auch für seine Verdi-Leidenschaft bekannt. Posthum ist er zudem längst selbst zur Musiktheaterfigur geworden: Eine Kammeroper erzählte 2014 vom Leben des Mafiakönigs, und heuer, zu seinem 75. Todestag, ist das Musical „Al Capone" mit Roberto Alagna in Vorbereitung.
Mythos vom ungreifbaren Gangster
Hollywood hingegen habe sich nach Al Capones Tod 1947 zunächst schwergetan, seine Geschichte rasch auf die Leinwand zu bringen, sagt Barbara Herzog. Die Welt des organisierten Verbrechens habe nicht zum Bild gepasst, das Amerika von sich in der Welt habe verbreiten wollen, erläutert die Kuratorin im Museum der Moderne Salzburg. Zeitungen warfen dafür umso neugierigere Blicke in die Unterwelt, deren Boss sich als König der Selbstdarstellung auch gern medial in Szene setzte.
Solche Bilder aus US-Medien hat der österreichische Künstler Walter Navratil als Inspiration für seinen „Al Capone"-Zyklus verwendet. In den Gemälden reflektiert er den Mythos des ungreifbaren Gangsters. Im Bild „Tod auf der Straße" ist im Vordergrund eine Mordszene zu sehen. Im Hintergrund macht das Schaufenster einer Reinigung Reklame für saubere Wäsche.
In der Ausstellung, die Barbara Herzog im Rupertinum kuratiert hat, hat Navratils Serie einen prominenten Platz. Unter dem Titel „Nervös und böse" riskiert auch die Schau Blicke in die „abgründigen Dimensionen der menschlichen Existenz".
Diese können sich in der Unterwelt finden wie bei Navratil, oder in der Halbwelt, wie die anrüchige Sphäre der Prostitution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oft genannt wurde. In der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts seien Prostituierte als Bildmotive „geradezu inflationär" aufgetaucht, erläutert Barbara Herzog: mondän dargestellt wie bei Ernst Ludwig Kirchner oder sozialkritisch wie bei George Grosz und Paul Gangolf. Fast immer regiere der männliche Blick, der die Frau zum Objekt der Begierde oder der moralisierenden Darstellung mache.
Dieser „Blick durchs Schlüsselloch" ist auch der Titel eines Kapitels der Ausstellung, die Barbara Herzog zur Gänze aus den Sammlungsbeständen des Hauses kuratiert hat. Andere Themen heißen „Böse Lust/ Fatale Liebe", „Unterwelt“ oder „Dämmerungswelten". Dass sich Künstler im 19. und im frühen 20. Jahrhundert mit dem Zwielichtigen auseinandergesetzt hätten, sei auch ein Spiegel für gesellschaftliche Phänomene der Zeit, erzählt die Kuratorin. Das Leben in den Großstädten, die Entwicklung der Massenmedien und der sogenannten Schundhefte „veränderten damals das bestehende Moralgefüge". Ein Gesetz sollte in Deutschland ab 1926 die Jugend vor „Schmutz- und Schundschriften" bewahren. Der Begriff gibt der Ausstellung ihren Untertitel „Schmutz und Schund' aus der Sammlung des Museum der Moderne Salzburg". George Grosz wurde für seinen gesellschaftskritischen Zyklus „Ecce Homo", der im Rupertinum digital durchgeblättert werden kann, ebenfalls wegen eines „Angriffs auf die öffentliche Moral" angeklagt.
Schaulust der Käufer
Dass Moral oft etwas Zweischneidiges ist, lässt sich auch an einem Zyklus von William Hogarth aus dem 18. Jahrhundert sehen: Er habe den Sittenverfall in London, der damals größten Stadt der Welt, moralisierend dargestellt, erläutert Herzog, „und dabei aber auch immer die Schaulust der Käufer im Blick gehabt". Für die Avantgarde des 20. Jahrhunderts wiederum habe die Beschäftigung mit dem Abgründigen eine andere Bedeutung bekommen, ergänzt Museumsdirektor Thorsten Sadowsky: „Künstler stellten sich auf die Seite sozialer Außenseiter, um sie zu verstehen, aber auch, um gesellschaftlich zu provozieren."
„Mord" heißt etwa ein Aquarell von Carry Hauser aus dem Jahr 1923. An einem Werk von Edvard Munch in der Schau ist indes auch zu erkennen, wie die Emanzipation das männliche Selbstverständnis zu verunsichern begann: In Variationen stellte Munch eine Frau als Wesen aus einem Zwischenreich dar. Ihr Mund berührt den Hals eines Mannes. „Allen Variationen des Motivs gab er den Titel ,Vampir", sagt Barbara Herzog: „Die Femme fatale wurde zum Symbol einer Frau, die männliche Vorrechte bedroht."
Ausstellungen: „Nervös und Böse -,Schmutz und Schund'", Museum der Moderne Salzburg, Rupertinum, bis 4. September. „Die Damen", Rupertinum, bis 4. September. CLEMENS PANAGL