Salzburger Festspiele 2022

Opfer werden, zum Opfer machen

Ouverture spirituelle. Über der Konzertreihe steht der Titel „Sacrificium". Sie beginnt mit einer Mahnung aus einem „Höllenschlund".

Zum 80. Gedenktag an das Massaker von Babi Jar hat auch die Künstlerin Marina Abramović 2021 ein Monument verwirklicht: eine Klagemauer mit 75 Kristallen. BILD: SN/BRITTA PEDERSEN/DPA/PICTUREDESK.COM

Mit welchen Worten kann ein Ort beschrieben werden, der zum Massengrab für mehr als 33.000 Menschen wurde? Als der einstige israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin 1995 die Gedenkstätte von Babi Jar in der Ukraine besuchte, sprach er von einem „Höllenschlund". In der Schlucht, die heute zum Stadtgebiet von Kiew gehört, hatten Einsatzgruppen der Nationalsozialisten am 29. und am 30. September 1941 das größte einzelne Massaker des Zweiten Weltkriegs an Jüdinnen und Juden verübt. In 36 Stunden hatten sie 33.771 Männer, Frauen und Kinder erschossen, die sie unter dem Vorwand einer Evakuierung zu der Schlucht gebracht hatten. Von der grausamen Systematik der Massenerschießung berichtete Dina Pronitschewa als eine der wenigen Überlebenden: „Sie mussten sich bäuchlings auf die Leichen der Ermordeten legen und auf die Schüsse warten, die von oben kamen. Dann kam die nächste Gruppe."

Der Name „Babi Jar" steht auch über der 13. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch, mit der die Ouverture spirituelle und damit der heurige Festspielsommer beginnt. „Das Werk hat eine unglaubliche Eindringlichkeit", sagt Konzertchef Florian Wiegand. Anlass für Schostakowitschs Komposition gab ein Gedicht des Schriftstellers Jewgeni Jewtuschenko, in dem er das Schweigen über die Gräueltat mit klaren Worten anprangerte: Auch zwei Jahrzehnte nach dem Massaker gab es in der damaligen Sowjetunion kein Memorial in Babi Jar. „Die steile Schlucht gemahnt als stummes Zeichen", schrieb Jewtuschenko. „Seine Kritik galt dem fehlenden Gedenken an die Opfer eines der schrecklichsten Massaker in der Shoah und dem latenten Antisemitismus in Russland", sagt Florian Wiegand. Die Uraufführung 1962 brachte schließlich Dichter und Komponist in Gefahr: Auf politischen Druck hin musste Jewtuschenko die Texte abändern, die Schostakowitsch vertont hatte, und aus dem Leid der Juden ein Leid des russischen Volkes machen: „Erst 1970 durfte die Urfassung erscheinen." 1976 wurde schließlich an der ehemaligen Schlucht ein erstes Denkmal errichtet.

Im Jahr 2022 ist Babi Jar wieder Kriegsschauplatz: Die Stadt Butscha, in der Russlands Armee im Zuge ihres Angriffskriegs gegen die Ukraine Massaker an Zivilisten verübte, „ist nur etwa 25 Kilometer von der Schlucht entfernt", berichtet Wiegand. Gedenkstätte machten „Und auch vor der die Angriffe laut Berichten keinen Halt."

,Bestürzende Aktualität"

Symphonie in der Dass Schostakowitschs Ouverture spirituelle „eine so bestürzende Aktualität" erfahren würde, „konnten wir bei der Planung des Programms noch nicht ahnen", sagt der Konzertchef. Der Titel, unter dem die sakrale Konzertreihe heuer steht, sei bereits 2021 festgelegt worden, ebenso wie das Werk, mit dem das Gustav Mahler Jugendorchester, der Dirigent Teodor Currentzis, sein MusicAeterna-Chor sowie der Bachchor sie eröffnen.

„Sacrificium" heißt das Leitmotiv, das die Konzerte miteinander verknüpft. „Anhand von Werken aus 500 Jahren Musikgeschichte beleuchten wir den Begriff „Opfer“ in seinen unterschiedlichen Bedeutungen“, erläutert Florian Wiegand.

„Hörst Du sein Weinen nicht und siehst sein Leben von Tod bedroht in jener Wogen Drang.“
Dante, „Hölle", 2. Gesang

Zum Opfer werden - oder andere zum Opfer machen: In der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts spiegelten sich beide Deutungen besonders eindringlich in Kompositionen, die Gräuel des Zweiten Weltkriegs thematisieren: Luigi Nonos „Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz" stehe daher ebenso auf dem Programm wie die Klaviersonate „27. April 1945" von Karl Amadeus Hartmann, die Igor Levit in Salzburg „erstmals öffentlich interpretiert", oder Schostakowitschs Streichquartett Nr. 8 „Im Gedenken an die Opfer des Faschismus und des Krieges" in der Interpretation des Salzburger Hagen Quartetts.

Das „Sacrificium" im Sinne des Darbringens eines Opfers tauche in Vertonungen alttestamentarischer Geschichten wie im Oratorium „Abramo ed Isacco" des Mozart-Zeitgenossen Josef Mysliveček auf. Den Aspekt des Opferbringens, um den es in der Geschichte von Abraham und Isaak gehe, „erzählen wir auch mit Jephte, der aufgrund eines Gelübdes seine einzige Tochter opfert". Statt der bekannten Oratorienvertonung des Stoffs von Händel sei die „Historia di Jephte" von Giacomo Carissimi als Rarität zu hören.

In Arthur Honeggers Oratorium „Jeanne d'Arc au bûcher" wiederum stehe eine berühmte Frauenfigur im Mittelpunkt, „die sich selbst für ihre Visionen aufopfert". Den Opfern des Völkermords an den Armeniern hat Tigran Mansurian sein „Requiem" gewidmet, das in der Kollegienkirche Werken von Komitas und Nono gegenübergestellt wird. Tröstlichere Blicke auf das Thema „Sacrificium" stellt Händels „Messiah" in Aussicht. Die Lebens- und Leidensgeschichte Jesu mit dem „Kreuzestod Christi als Sühneopfer" nehme in der sakralen Reihe jedes Jahr einen zentralen Raum ein. Der Streichquartett-Fassung der „Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze" von Haydn stellt Wiegand heuer jene Passionstexte gegenüber, die Wolfgang Rihm in seinen Zyklus der „Vigilia“ einfließen ließ. Dem Komponisten ist zu seinem 70. Geburtstag, den er im März begangen hat, eine eigene Reihe im Konzertprogramm gewidmet. „Und die Ouverture ist immer auch eine Hinführung zu dem, was danach kommt." Selbst in Rihms Oper „Jakob Lenz" finde sich das Leitmotiv wieder: in Gestalt eines Künstlers, „der Opfer seiner Wahnvorstellungen wird".

Anknüpfung zur Eröffnung

Aber auch mit dem Festakt zur Eröffnung der Salzburger Festspiele ist das Thema der Ouverture heuer eng verbunden. „Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine führt uns auf grauenhafte Weise vor Augen, wie gerade Tausende unschuldige Menschen zu Opfern werden", sagt Florian Wiegand. „Vor dem Hintergrund der schrecklichen Ereignisse in der Ukraine greifen wir im Eröffnungsfestakt aktuelle Themen auf: Mit Mendelssohns Choralkantate ,Verleih uns Frieden', dem dritten Satz aus Giacinto Scelsis ,Konx-Om-Pax' und der,Stillen Musik für Streichorchester' des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov. Eine unbeschwerte musikalische Umrahmung der Festrede von Ilija Trojanow mit dem Titel ,Der Ton des Krieges, die Tonarten des Friedens' wäre undenkbar gewesen." CLEMENS PANAGL

Daten und Fakten Ouverture spirituelle

Florian Wiegand. BILD: SN/SF/MARCO BORELLI

Als Konzertchef der Salzburger Festspiele programmiert Florian Wiegand in engem Austausch mit Markus Hinterhäuser auch die Reihe, die den Festspielsommer eröffnet.Die Ouverture steht heuer unter dem Titel „Sacrificium" und beginnt am 19.7. mit Schostakowitschs 13. Symphonie.