Salzburger Festspiele 2022

Der Weg ins Paradies führt durch die Hölle

„Die Göttliche Komödie". Schauspielchefin Bettina Hering mag und liest Dantes Werk seit ihrer Schulzeit.

Wo im Salzburger Festspielbezirk ist ein Ort mit höllischer Anmutung? Bettina Hering führt in den steinernen Gang zwischen Toscaninihof und Felsenreitschule: ein vieldeutiger Ort, Teil der Hinterbühne und „klandestin", sagt die Schauspielchefin. BILD: SN/COPYRIGHT BY: FRANZ NEUMAYR PRES

Nach zwei Jahren coronabedingter Pause kann Schauspielchefin Bettina Hering wieder eine Marathonlesung bieten. Nach Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften" 2017 und James Joyces „Ulysses" 2018 wird heuer bis weit nach Mitternacht Dantes „Die Göttliche Komödie" rezitiert.

SN: Welchen Reiz hat eine Marathonlesung?

Bettina Hering: Es handelt sich um Werke der Weltliteratur, die alle vom Namen kennen, die aber fast keiner gelesen hat. Man braucht dafür viel Zeit. Diese möchte ich in Form einer ausgiebigen Lesung bieten. Zudem kann so ein Werk mit mehreren Schauspielern und Schauspielerinnen viel klangliche Vielfalt gewinnen.

Beim „Mann ohne Eigenschaften", als alle halbe Stunde die Vorlesenden gewechselt haben, wurde dadurch jede der Figuren mit unterschiedlichsten Stimmen gefüllt. Das hätte irritierend sein können. Aber es war das Gegenteil: Die Figuren haben sich angereichert, sind praller und voller geworden.

Das Arrangieren einer Lesung der „Göttlichen Komödie" ist so, wie wenn man eine Partitur für die Stimmen der Schauspieler und Schauspielerinnen erschafft. Das ist eine Art auditiver Inszenierung.

SN: Welchen Weg legen Sie durch Die Göttliche Komödie"?

Jedes Werk erfordert ein anderes Konzept, einen anderen Einstieg, eine andere Gestaltung. Für Dante werden sieben Schauspielerinnen und Schauspieler teils aus dem „Jedermann"-Ensemble, teils aus „Verrückt nach Trost" erstmals aufeinanderprallen.

In allen drei Teilen kommen alle vor, aber in jedem Teil haben gewisse Kollegen und Kolleginnen längere Phasen als die anderen. Es sind nicht die einen für die Hölle zuständig, die anderen für den Läuterungsberg und wieder andere fürs Paradies. Sondern alle schaffen das ganze Kompendium, gehen also den Weg gemeinsam, aber mit unterschiedlichen Schwerpunkten.

SN: Seit wann beschäftigen Sie sich mit diesem Werk?

In der Schule hatte ich Altgriechisch. Von Homers „Odyssee“ und „Ilias" war es nicht weit zu Vergil und der „Aeneis". Von dort ist es nicht weit zu Dante. Die erste Begegnung fand in der Schule statt, aber nicht zur Gänze, wir haben das auszugsweise gelesen.

SN: Hat's Ihnen damals gefallen?

Das hat mit der Übersetzung zu tun. Ich meine mich zu erinnern, dass das eine schwere Übersetzung gewesen ist und dass ich es in der Schule sperrig fand. Allerdings fand ich die Grundidee fantastisch, sodass ich sie mir bald - wie andere Werke der Weltliteratur - gern einverleibt habe. Das sind ja Folien, auf denen wir nach wie vor künstlerisch bauen und wandeln.

Als Dramaturgin bin ich immer wieder auf „Die Göttliche Komödie" gestoßen. Und es gibt ja die großartigen bildlichen Darstellungen und Verfilmungen. Vor allem bei bildlichen Darstellungen ist zu erkennen, wie komplex Dante dieses Universum konstruiert hat mit Stringenz wie mit großer Offenheit. Diesem Werk ist nur beizukommen, wenn man es visuell veranschaulicht.

SN: Warum ist Die Göttliche Komödie" eines der kaum gelesenen Werke der Weltliteratur? Was ist so schwierig?

Vieles. Es gibt unglaublich viele Begegnungen, Zitate und Anspielungen, heute schwer zu dechiffrieren Zeitgeschichte die für uns sind - auf die des Mittelalters genauso wie auf die Antike, die Mythen, auf Details von Dantes Lebenswelt, auf die damaligen Kriegssituationen von Guelfen und Ghibellinen, seine persönliche Situation des Exils, auf die idealisierte Liebe, wobei man nicht weiß, wer Beatrice ist - eine Frau? Ein Wunschbild? Ein Symbol für Liebe?

Zudem wählt er als primäre Begleitperson Vergil, der aus einer anderen Zeit als er stammt. So legt er raffiniert eine Verbindung von der Antike zum Mittelalter - mit einem Dichter, der mit der „Aeneis" den Gründungsmythos Italiens geschrieben hat. 

Dante führt so viele Sphären zusammen - bewundernswert und reizvoll anspielungsreich. Die „Göttliche Komödie" ist ja sein halbes Lebenswerk. Das zu entziffern und zu übersetzen ist anspruchsvoll.

SN: Welche Schneisen schlagen Sie?

Ich habe viele, viele Stunden Arbeit in diese Fassung investiert. Beim Kürzen, Wiedereinfügen, Wiederwegstreichen ging es mir vor allem darum: Wie kann das Publikum dem am besten folgen? Daher lasse ich vor allem spezifische Aufeinandertreffen mit Menschen der damaligen Zeit weg; da müsste man zu viel erklären, dafür ist die Lesung nicht das richtige Forum.

SN: Wo und wann ist das Lesen lustvoll?

Die grundsätzliche Anlage ist sehr lustvoll! Da betreten zwei Leute, ein Gelehrter und sein Schüler, die Hölle und sofort hat man die bange Frage: Wie kommen die da jemals wieder heraus? Es baut sich eine Spannung auf: Was ist der nächste Schritt? Wie geht es weiter? Für die Lesung wird es wichtig, diese Spannung mitzunehmen.

Als Leser oder Zuhörer darf man die Position des Schülers einnehmen, weil sich Dante diese ja selbst zuteilt. Immer wieder fragt er Vergil: Was und wer ist das? Was tun wir hier? Warum müssen die so leiden? Müssen die wirklich diese grausamen Sachen durchleben? Mit diesem Lehrer-Schüler-Gespräch kommt man dem mittelalterlichen Denken näher.

„Wie eiskalt und schwach mir da wurde, frage nicht danach, Leser!“
Dante, „Hölle", 34. Gesang

SN: Welcher der drei Teile erscheint Ihnen als der interessanteste?

Ganz, ganz großartig finde ich den Schluss: diese tatsächliche Anrufung. Am Schluss steht ein Gebet! Das könnte man aus heutiger Sicht weit fassen: ein Gebet als Anrufung für Dinge, die man nicht lösen kann, die als Rätsel bleiben. Bei Dante geht es um den Glauben, um die konkrete Anrufung Gottes, aber auch der Schönheit und der Liebe. Und es geht um eine Art der Verbindung, die wir zur Welt als Ganzes haben, die wir immer wieder herstellen müssen.

SN: Spielt sich in der Hölle am meisten ab, was leicht nachvollziehbar ist?

Nein, das könnte ich so nicht sagen. In jedem Teil gibt es Kreise oder Gänge, die faszinierend sind. Ich habe keine Vorliebe, es gehören alle drei Teile zusammen. Den einen kriegt man nicht ohne den anderen.

SN: Also kein Paradies ohne Hölle?

Ja, wenn man es symbolisch überträgt, gilt es nicht nur für eine spezifische Lebenssituation, sondern hat auch in der Kunst und im kreativen Erschaffen eine gewisse Gültigkeit. Auch da gibt es Entwicklungsprozesse über verschiedene Stufen - und die sind meistens auch mit zwischenzeitlichen Niederlagen verbunden.

Hölle und Paradies: Das sind große Worte und starke Bilder. Wenn man das in eine menschliche Welt überträgt, kommt es immer darauf an, von welchem Standpunkt aus man das betrachtet und welche Rolle die Religion, der Glaube spielt. Ein reines Paradies wird es wohl nicht geben, denn eine menschliche Welt ist ohne Schmerzen nicht denkbar, die gehören zum Leben dazu. Sie beginnen mit der Erkenntnis, dass wir sterben müssen.

SN: Dantes Werk ist heuer ein Leitmotiv des Programms der Salzburger Festspiele. Wie gilt das im Schauspiel?

In „Ingolstadt", dieser Fassung aus „Fegefeuer in Ingolstadt“ und „Pioniere in Ingolstadt", zeigt Marieluise Fleißer die bigotten Verhältnisse einer Kleinstadt gnadenlos auf. Für diese Hölle des Zwischenmenschlichen gibt es keine Läuterung und keine paradiesischen Zustände. Da fehlt der dritte Teil, ja, auch schon der zweite.

Im übertragenen Sinn sind auch in „Verrückt nach Trost" Verweise zu entdecken. Da steht im Zentrum ein Geschwisterpaar, das früh die Eltern verloren hat. Die beiden müssen, brutal abgenabelt, ihren Weg allein suchen und sich jeweils gegenseitig durch den nächsten Lebenskreis führen. Man begleitet sie beim Älterwerden auf einem komplizierten, tragisch-komischen Weg. Dieser verkörpert, wie oft in dramatischen Zusammenhängen, die Suche nach glücklichem Leben oder zumindest glücklichen Umständen. Das gelingt zum Teil auch.

„Iphigenia" zeigt in unserer heutigen Fassung dieser Opferung der Tochter anhand eines Missbrauchs in der Familie den Höllenschlund auf, aus dem es für das Opfer nur unter schwierigsten Bedingungen ein Entkommen gibt, sicher aber kein Paradies.

Bei „Jedermann" sind wir auf dem Weg zum Glauben, mit der Läuterung als einem der Hauptmotive. Diese ist nach wie vor eine der schwierigsten Szenen - für jeden Darsteller und jeden Regisseur. Von der Umsetzung der Läuterung hängt nicht zuletzt die Glaubwürdigkeit einer Inszenierung ab.

Lesung: „Die Göttliche Komödie", 15. August, 19 Uhr, Universität Mozarteum. HEDWIG KAINBERGER