„Ingolstadt". Marie-Luise Stockinger verkörpert Olga. Ein Gespräch über Nächstenliebe, Ausgrenzung und das Bewusstsein.

Die gebürtige Oberösterreicherin Marie-Luise Stockinger gehört zum Ensemble des Wiener Burgtheaters. BILD: SN/MARCO RIEBLER
Marie-Luise Stockinger trägt das Wasser an diesem Freitagnachmittag noch in ihren Ohren, als sie aus den Endproben kommt. An der Hauptfigur im Schauspiel „Fegefeuer in Ingolstadt" bewegen sie vor allem der Muttertod und das Ringen um Anerkennung.
SN: Sie haben an diesem Freitag das Schlussbild aus „Fegefeuer in Ingolstadt" anprobiert, was macht das Ende einer Probe mit Ihnen?
Marie-Luise Stockinger: Eine Klammer schließt sich, die mit dem ersten Auftritt auf der Bühne beginnt. Es befreit; wenn man weiß, wohin man am Ende zielt, kann man anders mit dem Anfang umgehen. Dann hat man die Route erfasst und eine Narration für die Figur gefunden. Vom Ende gesehen ist eine Übersicht immer besser. Ich kann nochmals neu kalibrieren und spüre, an welcher Stelle kann ich mich zurücknehmen, „schlank" spielen - und wo nehme ich mir Raum. Man ist so lange tapsend im Dunkeln beim Proben. Ich arbeite letzten Endes über die Falsifikation. Was brauche ich eigentlich zum Erzählen? Und was alles eigentlich nicht?
SN: Sie streben nach der Schließung von Klammern?
Das klingt, als ob ich eine Eindeutigkeit suche. Darum geht es mir aber nicht. Es geht darum, mit welcher Temperatur man ins Spiel und in eine Rolle steigt. Oftmals steigt man mit einer zu hohen ein, aus Stress, der Rolle und dem Thema gerecht zu werden. Wenn ich den ganzen Weg kenne, kehrt eine Ruhe ein. Es ist dann wie beim Slalomfahren: Man weiß, wo die Stecken, in meinem Fall Narration, gesetzt wurden. Wie man die Kurven aber nimmt, kann man im Spiel entscheiden.
SN: Fleißers Werke sind geprägt von sprachlicher Detailliertheit und zugleich einer Bildgewaltigkeit. Stellte dies anfangs eine Herausforderung für Sie dar?
Ich hatte es ein bisschen erahnt. Anfangs glaubte ich ein expressionistisches Stück vor mir zu haben. Manchmal hat man das Gefühl, dass vieles im Stück simultan stattfinden müsste. Das hat alles einmal beschleunigt. Während der Proben dachte ich dann aber: Die belauern sich mit der Sprache. Ich liebe es, mich über die Sprache einer Figur zu nähern. Man kann über die Sprache den Körper und auch den Raum finden. Olga, meine Rolle, hat wenige Wortmeldungen, ist nicht wirklich im Treiben um sie herum involviert, sie ist gedanklich woanders. Sie ist beschäftigt. So bilden sich ein Ausdruck und eine Körperlichkeit: Wann antwortet sie, warum antwortet sie überhaupt - warum um Gottes willen fragt sie jetzt auch noch etwas nach. Und so erarbeite ich mir ein „Olga-System" für das Stück, was ja nur eine innere Dynamik ist.
SN: Was reizt an und vor allem: Was sehen Sie in Olga?
Der Muttertod interessiert mich am meisten. Selbst schwanger zu sein, Mutter zu werden und die eigene Mutter ist nicht mehr da. Das bewegt sie. Da ist eine Leerstelle, ihr Orientierungspunkt ist verloren gegangen.
Sie ist allein mit der Schwangerschaft und versucht, alle Institutionen abzuklappern: die Kirche, ihre Familie, eine Engelmacherin, die Männer um sie herum. Sie steht von Anbeginn des Stücks draußen aufgrund ihrer Schwangerschaft und wird auch nicht mehr hineingelassen, weil sie einen sündhaften Körper hat. Das Absurde ist, sie will von Anfang an nicht zu dieser Gesellschaft gehören, findet aber keinen Weg der Emanzipation. Wenn sie am Schluss sagt: „Ich gehöre heim", wohin geht sie? Zu Mama?
SN: Was zeichnet Olga konkret aus?
Sie sieht die Menschen. Sie beobachtet. Wenn sie sich ins Geschehen involviert, dann aus Gegenwehr. Sie vermisst ihre Mutter und sucht nach Geborgenheit, die sich aber immer als Abhängigkeit entpuppt. Sie antwortet nur, wenn sie dazu gezwungen wird oder sich durch Sprechen Freiheit verschaffen will.
SN: Sich durch Sprechen Freiheit und Raum zu schaffen, ist das Ihr Ziel auf der Bühne?
Ich habe einen naiven und sehr kindlichen Zugang gegenüber dem Spielen: Ich möchte etwas erfinden, das so aufregend ist, dass andere mitmachen und zusehen wollen. Ein Theaterabend ist ein gemeinsames Experiment der Spielerinnen, Spieler und des Publikums. Wir können auf der Bühne einen Gedankenraum verfleischlichen. Wir können zum Innehalten und zur kurzen Reflexion im Alltagswahnsinn anregen. Freiheit im Kopf und Raum für Ungedachtes. Das stellt den Idealfall dar. Schlafen ist natürlich auch immer eine Option.
SN: Wie ästhetisch ist die Hölle?
Ich weiß nicht, ob die Hölle eine Ästhetik hat. Die Hölle ist das Gegengewicht zum Paradies. Wenn man daran glaubt, ist das Leben dann der Spannungsraum dazwischen. Kein toller Zustand, finde ich. Wer Schwab, Jelinek, Bernhard oder Dostojewski liest, merkt: Beziehungen können eine Kleinhölle sein. Denken wir auch an die „Geschlossene Gesellschaft" von Sartre. Jede Beziehung kann die Hölle sein. Mein Nächster kann eine Hölle für mich bieten. Hölle, Horror, Grusel, dämonische Zustände - das ist ja eine ganz eigene Industrie und ein Faszinationsraum.
SN: Auch für Sie?
Was mich eher interessiert: Erfahrung von Schmerz und der Umgang damit. Ich finde Schmerz etwas sehr Definierendes. Jeder hat ihn, keiner will ihn. Und bis zum Sterben ist er Teil von mir.
SN: Fürchten Sie sich vor dem Tod?
Wenn ich mir vorstelle, das eigene Bewusstsein hört auf, ist das für mich die Hölle. Das Ich wird das ganze Leben geformt, gepusht und optimiert, unvorstellbar daher der Verlust von alldem. Dass man halt wirklich eine von vielen ist. Das könnte auch trösten. Mein Vater ist gläubig und hat mit dem Tod überhaupt kein Problem. Das hat mich immer wahnsinnig gemacht. Dass er sich mit etwas trösten kann, das für mich keinen Trost bietet. Ich reibe mich eher gerne auf.
SN: Woran reiben Sie sich im Moment?
An der Hitze, ich bin klimapanisch. Der Ukraine-Krieg. All dieses Geld, das wir in Waffen investieren und das nun der Entwicklungshilfe weltweit fehlt. Ich könnte ewig weiter aufzählen. Ich hasse Unfreundlichkeit und Egoismus. Alle Gräben werden tiefer und der Solidaritätsgedanke interessiert nur wenige. Ich habe auch viele Kinder in meinem Umfeld. Die unbeschwerte Kindheit endet früher.
SN: Damit ziehen wir wieder die Parallele zu „Ingolstadt".
Die jungen Menschen, also die vulnerabelsten, wachsen in eine katholische Welt hinein, die aber eher Gesetze der Gewalt als der Nächstenliebe lehrt. Sie schauen sich die Gewalt von den Eltern ab und geben sie weiter. Ein Perpetuum mobile. Ihre Gewalt ist willkürlich. Am Ende erinnern sie eher an Straßenhunde, die ums Überleben kämpfen.
SN: Ausgrenzung in der Blase, ein Abbild unserer Gesellschaft, eine plakative Offenheit?
Die Gesellschaft strebt danach, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen. Wir möchten uns in jeder Krise rasch verorten, um sauber rauszukommen. Wir verwerten und arbeiten die Ursprungsungerechtigkeit aber nicht auf. Eine Oberflächenbereinigung findet statt, aber die Mechanik von rassistischen, sexistischen, ungerechten Systemen bleibt dieselbe.
Theater: „Ingolstadt", nach „Fegefeuer in Ingolstadt" und „Pioniere in Ingolstadt" von Marieluise Fleißer, bearbeitet von Koen Tachelet, Koproduktion mit dem Burgtheater. Premiere am 27. Juli, Perner-Insel, Hallein. MARCO RIEBLER