Zeit mit Bartók. Von einem, der die Nation gesucht und Europa gefunden hat: Béla Bartóks musikalische und politische Identitätssuche in den Wirren des 20. Jahrhunderts wird in einem Schwerpunkt beleuchtet.

Der Komponist Béla Bartók im Jahr 1939. BILD: SN/PICTUREDESK/BORIS LIPNITZKI/ROGER VIOLLET
Kaum ein anderer Komponist spiegelt die ambivalenten gesellschaftlichen Dynamiken Europas in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts so drastisch wie Béla Bartók. Sein musikalisches Werk ist der rote Faden durch ein Leben, welches stets von der Suche nach der Freiheit und dem Wahrhaftigen geprägt war. Auf diesem Pfad verfiel der junge Bartók zuerst dem Nationalismus und seiner Klangsprache, wandte sich jedoch, befeuert von seinen eigenen musikethnologischen Studien, immer mehr einer multikulturellen Weltanschauung und ihrer Formenvielfalt zu.
Bartóks Wandlung zeigt uns auch im 21. Jahrhundert, dass es auf der Einbahnstraße zur Hölle des Nationalismus Umkehrmöglichkeiten gibt. Der Schwerpunkt „Zeit mit Bartók" bietet mit acht Programmen die Möglichkeit, Bartóks vielfältiges Werk im Kontext seiner stilistischen und philosophischen Metamorphose zu betrachten.
„Meine eigentliche Idee (...) ist die Verbrüderung der Völker, eine Verbrüderung trotz allem Krieg und Hader." Dieser Standpunkt Béla Bartóks aus dem Jahre 1931 ist mehr als nur ein Lippenbekenntnis eines kosmopolitischen pazifistischen Ideologen der Zwischenkriegszeit. Es ist die lang gewachsene Erkenntnis eines Menschen, der durch die Musik das philosophische Dilemma des Nationalismus überwand.
Béla Bartók wurde 1881 in eine Lehrerfamilie in einer Kleinstadt im ungarischen Teil der Doppelmonarchie geboren. Seine Jugend war vom frühen Tod des Vaters, oftmaligen Wohnortwechseln und einer sozialen Isolation aufgrund ausgedehnter Hautausschläge geprägt. Dennoch wurde sein außergewöhnliches Talent intensiv gefördert. Während der Gymnasial- und Studienzeit in Pressburg und Budapest begann sich Béla Bartók zu politisieren. Er erlebte dort die Zeit der Industrialisierung, des wachsenden magyarischen Selbstbewusstseins und der Emanzipation der Ungarn innerhalb der Doppelmonarchie. Bartók erschien in Nationaltracht auf der Universität und zeigte so seinen Unmut über die in seinen Augen immer noch vorherrschende Vormachtstellung der Deutschen.
Eine neue musikalische Identität
Den fanatischen ungarischen Nationalismus brachte Bartók damals auch in Briefen immer wieder zum Ausdruck: „Ich für meine Person werde mein Leben lang auf jedem Gebiet, zu jeder Zeit und auf jede Weise einem Ziel dienen: dem Wohle der ungarischen Nation und des ungarischen Vaterlandes." Zu diesem Wohl gehörte für ihn auch eine neue musikalische Identität, welche es mit der deutschen Romantik aufnehmen konnte. Der wohl prägendste Moment in dieser Phase war eine Aufführung Richard Strauss' symphonischer Dichtung „Also sprach Zarathustra" im Jahr 1902, welche als Initialzündung für seine zukünftige Auseinandersetzung mit dem Genre Programmmusik gilt. In Bartóks einziger Oper „Herzog Blaubarts Burg", die heuer als Neuinszenierung unter der Leitung von Teodor Currentzis in der Felsenreitschule auf dem Programm steht, kommt die Verwandtschaft zu Strauss' Klangsprache besonders zum Ausdruck. Viel charakteristischer für Bartóks Werk sind jedoch die volksmusikalischen Einflüsse Siebenbürgens und Südosteuropas. Getrieben von der Idee, die ursprünglichste und ungarischste aller Klangsprachen als Fundament für seine Nationalmusik zu finden, machte sich Bartók in die entlegensten Gebiete Siebenbürgens auf, um die bäuerlichen Volksmusikmelodien zu dokumentieren und zu studieren. Mit dabei der von Thomas Edison erfundene Phonograph, der Bartóks umfangreiche Volksmusiksammlung deutlich erleichterte.
Je mehr sich Bartók in seine Studien vertiefte und je weiter er seinen Blick für die Volksmusik abseits der ungarischen Bevölkerungsgruppe öffnete, desto mehr verblasste der Glanz seines Nationalismus. Auf der Suche nach dem eindimensionalen Konzept einer Nation in der Musik barg er mit Begeisterung den Schatz mittel- und südosteuropäischer Klangvielfalt, der sich im heurigen Festspielsommer in all seinen glänzenden Facetten unter anderem mit Yefim Bronfman, Patricia Kopatchinskaja, Pierre-Laurent Aimard und den Wiener Philharmonikern unter Andris Nelsons betrachten lässt.
„Die glücklichsten Tage meines Lebens"
Der einfache, beschwerliche, aber ungleich geerdetere Lebensstil der Bauern prägte Bartók auch persönlich: „Es waren die glücklichsten Tage meines Lebens, die ich in Dörfern, unter Bauern verbracht habe." Die Grenze zwischen Ungarischem und Nicht-Ungarischem konnte er weder in der Bevölkerung noch in der Musik ziehen. Auch Bartóks Kompositionstechniken wurden dabei immer grenzenloser. Verstand er sich am Anfang als Vermittler und Übersetzer traditioneller Formen in die Kunstmusik, so dienten sie ihm nun immer mehr als Grundlage für freie unkonventionelle Deutungen. Die sechs Streichquartette Bartóks, entstanden innerhalb von 39 Jahren, spiegeln dabei beinahe prozesshaft Bartóks Wandel. Zwischen dem stürmisch drängenden ersten Satz des ersten Streichquartetts aus dem Jahr 1909 und dem still klagenden vierten Satz von Bartóks sechstem und letztem Streichquartett aus dem Jahr 1939 lassen sich die Schichten seiner forschenden und komponierenden Arbeit greifbar nachvollziehen. Ein guter Grund, sie, interpretiert vom Jerusalem Quartet, an zwei Abenden in ihrer Gesamtheit ins heurige Festspielprogramm zu nehmen.
Die „Kontraste" für Violine, Klarinette und Klavier sowie die Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug, die am 12. August im Haus für Mozart in Starbesetzung präsentiert werden, stammen wie das letzte Streichquartett aus dem Jahr 1939 und markieren das Ende Bartóks in Europa. Als offener Gegner des Naziregimes und der sich immer mehr an Hitler annähernden ungarischen Regierung fühlte sich der mittlerweile liberale Komponist zur Flucht gezwungen und emigrierte 1939 in die Schweiz und ein Jahr später in die USA.
Der Nationalismus wurde zum zweiten Mal innerhalb nur eines Vierteljahrhunderts zur Geißel des gesamten Kontinents. Der immer zur Weiterentwicklung bereite Béla Bartók erkannte, dass nationalistische Enge kulturelle Diversität zerstört. Sein wissenschaftlicher Schatz an gesammelter Volksmusik rettete jahrhundertealtes Kulturgut aus halb Europa im letzten Moment vor der Walze des Faschismus und des Zweiten Weltkriegs, der kulturellen Gleichschaltung sozialistischer Regime und der Uniformierung moderner Unterhaltungsformen.
Béla Bartóks Abschied aus Europa sollte für immer sein: In den USA konnte er kulturell und persönlich nie Fuß fassen und seine Leukämieerkrankung verhinderte die Heimkehr.
Leben und Werk als Einheit
Bartóks Biografie und Werk sind eine unzertrennbare Einheit und reflektieren die kulturelle Krise des Kontinents zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg.
Während viele seiner Zeitgenossen im Blindflug des Nationalismus ins Verderben stürzten und erst im Trümmerhaufen der Eskalation ihre Irrfahrt bemerkten, ging Bartók den Phänomenen, die ihn beschäftigten, auf den Grund und führte über die Auseinandersetzung mit der Kunst seine politische Haltung aus dem Dilemma des Nationalismus. LEONHARD HARTINGER
Zeit mit Bartók: Festspielschwerpunkt mit Konzerten und der Oper „Herzog Blaubarts Burg", 26. Juli bis 14. August.