Salzburger Festspiele 2022

Hölle erwächst in der Unfreiheit

„Iphigenia". Aus dem Stoff der griechischen Mythologie entsteht ein modernes Familiendrama. Frauen suchen den Ausbruch.

Szenenbild aus „Iphigenia" am Thalia Theater Hamburg. BILD: SN/THALIA THEATER/ KRAFFT ANGERER

Dante befindet sich im Exil, als er die „Göttliche Komödie" über seine Reise durch die Höllenkreise Anfang des 14. Jahrhunderts verfasst. Zuvor, im Bürgerkrieg von Papsttreuen und Königsanhängern, hat seine Fraktion verloren, während er in Florenz abwesend gewesen ist. Er ist zum Tod verurteilt worden und kann nicht wieder in seine Heimatstadt zurückkehren. „Für Dante bricht, wenn man so will, eine ganze Welt zusammen im Augenblick des Exils", schreibt der Literaturwissenschafter Karlheinz Stierle.

Ähnlich ergeht es Iphigenie aus der griechischen Mythologie, die in Johann Wolfgang von Goethes Adaption aus 1786 ihr Exil auf Tauris als ihren „zweiten Tode" beklagt: „Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher. (...) Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd." Sie wurde von ihrem Vater Agamemnon geopfert, damit er mit günstigem Wind nach Troja ziehen kann. Göttin Artemis ließ die Tochter am Leben und setzt sie auf der Insel Tauris als Priesterin ein. Dort dient sie widerwillig.

„Es naht sich der blut'ge Strom, wo jeglicher muss sieden, der dort oben dem Nächsten durch Gewaltthat wehe thut.“ 
Dante, „Hölle", 12. Gesang

„Hölle, das ist ein Ort, von dem ich nicht wegkann", so beschreibt es die Schauspielerin Lisa-Maria Sommerfeld im Juli 2022. Sie spielt die Helena in dem Stück „Iphigenia", das im August bei den Salzburger Festspielen auf der Perner-Insel in Hallein uraufgeführt wird. Die Schicksale der Frauenfiguren Iphigenie und Helena werden in dem Schauspiel miteinander verwoben. Das Opfer beider Frauen hat den Trojanischen Krieg begünstigt: Der Raub der schönen Helena durch Paris gilt als ein Auslöser des Krieges. Die Opferung Iphigenies hat das Heer der Griechen erst anrücken lassen.

Die Frauenfiguren in der Mythologie lieben oder leiden, werden als Pfand oder Trophäe gehandelt. Bei Euripides im 5. Jahrhundert v. Chr. opfert sich Iphigenie bereitwillig für ihr Land. Da mutet es emanzipatorisch an, wenn Goethe im 18. Jahrhundert seine Iphigenie sagen lässt: „Der Zustand der Frauen ist beklagenswert, Zuhaus' und in dem Kriege herrscht der Mann. Wie eng gebunden ist des Weibes Glück."

Helena wird daheim festgehalten

Dieser Ton, die Grundidee der Freiheit, im Sinne der Aufklärung, die Goethes Werk durchziehe, werde in dem Stück fortgeführt, wie Lisa-Maria Sommerfeld schildert. Regisseurin Ewelina Marciniak hieve den mythologischen Stoff in die Gegenwart. „Es ist ein modernes Familiendrama", sagt Lisa-Maria Sommerfeld.

Als Helena wird sie von ihrem Ehemann daheim festgehalten. „Auch in dieser Fassung entkommen die Frauen ihrem Schicksal nicht ganz. Aber sie gehen anders damit um, die Probleme und Machtverhältnisse werden benannt." So teilt sich Iphigenias Figur in zwei Personen - ein junges und ein altes Ich, gespielt von dem Mutter-Tochter-Duo Oda und Rosa Thormeyer. „Vor allem durch die ältere Iphigenia kommt ein moderner, feministischer Blick auf die Geschichte", erzählt Sommerfeld.

Für ihre Rolle habe sie sich mit Körperbildern auseinandergesetzt. Helena galt als die schönste Frau ihrer Zeit und wurde deshalb Paris versprochen. „Ich bin nicht 1,80 Meter groß, dürr und blond", sagt die Schauspielerin. „Aber genau so stellt man sich Helena vor." So kennt man sie auch aus dem Hollywoodfilm „Troja" aus dem Jahr 2004, besetzt mit Diane Kruger. „Ich habe mich also gefragt, was ist Schönheit? Was ist Attraktivität? Und schön ist für mich, wenn man Selbstbewusstsein und Lebensfreude ausstrahlen kann. So habe ich Zugang zu der Figur gefunden." Am Theater spüre sie immer noch die konventionellen Zuschreibungen, wie ein Frauenkörper auf der Bühne auszusehen habe. „Man spricht darüber, sagt etwa: ,Toll, dass gerade du die Julia spielst. Deshalb macht es Freude, weil man anderen Frauen Mut geben kann. Ich wiege nicht 17 Kilo und kann trotzdem diese und jene weibliche Hauptrolle spielen. So können wir Körperideale aufbrechen."

Die Arbeit mit der polnischen Regisseurin Ewelina Marciniak liege ihr sehr, erzählt Sommerfeld. „Es ist schon sportlich, gefühlt sind zwei Wochen Generalprobe vor einer Premiere, das heißt, sie gibt ordentlich Gas, arbeitet detailgenau und ist wahnsinnig intelligent. Sie entwirft das Konzept, und dann entwickelt man gemeinsam weiter, dabei kann man gut mit ihr diskutieren."

Ewelina Marciniak ist für ihre bildgewaltigen, politisch provokanten und mit sinnlichen Bewegungselementen choreografierten Inszenierungen bekannt. Für „Der Boxer" nach dem Roman von Szczepan Twardoch hat sie im Jahr 2020 den „Faust"Theaterpreis erhalten. Beachtet wurde auch ihre Adaption von „Die Jakobsbücher" der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk.

„Iphigenia" ist eine Koproduktion der Salzburger Festspiele mit dem Thalia Theater Hamburg. Die gebürtige Augsburgerin Lisa-Maria Sommerfeld ist seit 2020 Teil des Ensembles. „Als ich erfahren habe, dass wir das Stück in Salzburg spielen, bin ich komplett ausgeflippt."

Widerwillig in den Jedermann"

Die 28-Jährige hat ihre Schauspielkarriere in Kärnten begonnen und spielte am Volkstheater Wien, bevor sie nach Hamburg zog. Mit ihrem Festspieldebüt in Salzburg schließt sich ein Kreis: „Ich wollte als Kind immer Schauspielerin werden. Mit 13 Jahren hatte ich aber keinen Bock mehr darauf. Da nahm mich ein Verwandter widerwillig zu den Salzburger Festspielen mit. Als ich den ,Jedermann' mit Birgit Minichmayr und Nicholas Ofczarek sah, war ich begeistert, das hat mir meinen Traum zurückgebracht." Ab da war ihr Ziel: „Den ersten weiblichen Jedermann spielen! Aber ich wäre in jeder Rolle dabei, und sei es als Baum hinten links ohne Text."

Nach ihrer Zeit in Hamburg wolle sie nach Österreich oder Bayern zurückkehren. „Ich vermisse die Berge, die Mentalität und die Sprache." Ihre Herkunft in einem streng katholischen Haushalt habe sie geprägt, wie sie sagt. Auf die Frage, ob es eine Hölle gibt, antwortet sie: „Ja, die gibt es! In meiner Kindheit war sie stets eine Erziehungsmaßnahme. Gott war derjenige, der immer zuschaut und beschließt, ob man in die Hölle kommt oder nicht. Das hat mich gezügelt." Heute sehe Hölle anders aus: „Krieg, die Bilder aus der Ukraine, wenn Mütter ihre Kinder sterben sehen, das ist für mich Hölle."

Theater: „Iphigenia", Uraufführung, Perner-Insel Hallein, Premiere am 18. August.

Zur Person Lisa-Maria Sommerfeld

Lisa-Maria Sommerfeld spielt Helena. BILD: SN/THALIA THEATER/ ARMIN SMAILOVIC

1994 in Augsburg geboren, erste Rollen in Klagenfurt und Villach, bevor sie am Max-Reinhardt-Seminar in Wien studierte.

Am Volkstheater Wien spielte sie u. a. in David Schalkos „Schwere Knochen". Zu sehen ist sie zudem in der Sky-Serie „Der Pass". Seit 2020 ist sie Mitglied im Ensemble des Thalia Theaters in Hamburg.