Salzburger Festspiele 2022

„Katja kann nur in den Tod gehen“

„Katja Kabanowa“. Barrie Kosky setzt den Leidensweg einer Frau in Szene, die an einer christlichen, verklemmten Welt zerbricht.

„Eine Welt voller Felsenklippen“: Regisseur Barrie Kosky auf der Bühne der Felsenreitschule. BILD: SN/NEUMAYR/ BIRGIT PROBST

Was bringt eine Frau dazu, sich ohne Warnzeichen in die Fluten der Wolga zu stürzen? Dieser Frage spürt Leoš Janáček in „Katja Kabanowa“ nach. Barrie Kosky setzt in der Felsenreitschule eine Oper in Szene, die der Regisseur als „in jedem Satz, in jedem Takt so kompakt, präzise und komplex“ empfindet.

SN: Gibt es in „Katja Kabanowa“ einen Bezug zur Hölle?

Barrie Kosky: Aus meiner Sicht nicht. Ich bin atheistischer Jude und glaube weder an Hölle noch Paradies. Die Idee von Himmel und Hölle ist ein schönes Märchen. Janáčeks Opern aber ereignen sich – außer natürlich „Die Ausflüge des Herrn Brouček zum Mond“ – auf der Erde, in der Gegenwart und mit der Komplexität des menschlichen Zusammenlebens. Das macht auch „Katja Kabanowa“ so berührend. Es gibt eine direkte Emotion zum Zuschauer.

"Denn was man selbst sich nahm, darf man nicht haben."
Dante, „Hölle“, 13. Gesang

SN: Können wir uns vielleicht auf den Begriff „die Hölle auf Erden“ einigen?

Auch das ist problematisch. Denn was ist die Hölle denn? Ein künstliches Konstrukt einer Religion. Ich möchte die christliche Metapher der Hölle nicht in meinen Inszenierungen verwenden. Hölle bedeutet für mich Feuer, Dämonen, Satan. Diese christlichen Metaphern und Figuren spielen in meinem Leben keine Rolle. Ich mag das antike griechische Konzept von Unterwelt mit seinen reichen Metaphern. Das ist alles viel komplexer. Wenn Eurydike in die Unterwelt geht, dann ist sie ein verlorener Geist. Das hat mit Verlorenheit und Einsamkeit zu tun. Aber die Hölle als Laboratorium für die Bestrafung von Sündern ist für mich grauenhaft – und viel zu katholisch.

SN: Mit welchem Begriff ließe sich denn das Schicksal der Titelfigur beschreiben?

Katja ist eine der traurigsten, melancholischsten Figuren in den Opern des 20. Jahrhunderts. Sie erlebt kein befreiendes Happy End wie Jenůfa. Katja kann nur in den Tod gehen. Selbst in der Liebesszene sagt sie: „Ich möchte sterben.“ Ich habe diese Figur so oft auf Opernbühnen als Hysterikerin erlebt. Dabei pendelt sie zwischen so vielen unterschiedlichen Emotionen, die sie am Ende nicht mehr kontrollieren kann. Deshalb fasst sie diese unglaubliche Entscheidung, Selbstmord zu begehen.

SN: Die Operngeschichte ist reich an tragischen Frauenfiguren. Wo würden Sie Katja einordnen?

Sie ist eine Kombination aus verschiedenen Opernfiguren von Tschaikowsky, Dvořák, Debussy und Puccini. Tatjana aus „Eugen Onegin“ ist fast wie eine Schwester. Die Liebe zum falschen Mann, das Impulsive in ihrer Liebe: Das ist Katja sehr nahe. Rusalka wiederum hat eine Sehnsucht, ihrem Leben als Nixe zu entfliehen – was seinen Preis hat. Mélisande ist in einer klaustrophobischen Männerwelt eingeschlossen, wird manipuliert und bleibt unverstanden – genauso wie Katja. Und dann wissen wir, dass Janáček von „Madama Butterfly“ beeinflusst wurde. Man nimmt diese vier Frauen und destilliert daraus eine Figur.

SN: Worin besteht die Qualität dieser Oper?

Janáček hat in seinem Libretto Alexander Ostrowskis Theaterstück „Gewitter“ adaptiert. Das Stück ist melodramatisch und lang. Janáčeks Fassung ist besser. Er hat dramaturgisch viel verändert und gelangt dank seiner Musik auf eine ganz andere Ebene. Ich kenne nur eine weitere Oper, die in jedem Satz, in jedem Takt so kompakt, präzise und komplex ist: „Wozzeck“. Obwohl „Katja Kabanowa“ nur 90 Minuten lang ist, glaubt man danach, diese Frau zu kennen.

SN: Mit Corinne Winters steht Ihnen eine starke, körperlich präsente Darstellerin zur Verfügung. War sie Ihre Wunschbesetzung?

Auf jeden Fall. Corinne ist eine dieser Sängerinnen, die jeder Regisseur liebt. Ein Theatertier. Jemand, der Theater liebt. Du brauchst für diese Oper sehr starke Persönlichkeiten. Die Charaktere kommen oftmals nur für einige Sätze auf die Bühne. Daher benötigt man Tiefe, um das Interesse der Zuseher für die Figuren zu wecken. Im Falle der Katja kann ich zwar Ideen entwickeln, aber ich kann diese Frau nicht auf die Bühne bringen. In den sieben Probenwochen bis zur Premiere zeichnen wir diese Figur. Zunächst war da schwarze Kohle, am Ende wird mit Corinne Winters’ Hilfe ein Ölbild entstehen. Sie hat Katja schon auf der Bühne verkörpert, aber noch nie in einer Neuinszenierung.

SN: Wie ein weißes Blatt Papier?

Gewissermaßen. Es ist aber immer gut, wenn eine Sängerin oder ein Sänger die Rolle bereits ein, zwei Mal gesungen hat. Dann besteht keine Angst mehr vor den sängerischen Herausforderungen einer Rolle und die Struktur ist klar. Vor drei Jahren haben Corinne und ich über diese Rolle erstmals gesprochen. Man kann Katja durchaus mit einer Sopranistin in ihren späten Vierzigern besetzen. Corinne Winters aber ist jung. Sie kann auf der Bühne eine Frau Mitte zwanzig verkörpern.

SN: Und das Stück lässt es zu?

Absolut. Wir haben entschieden, dass sie fünf Jahre mit diesem Alkoholiker verheiratet ist. Sie hat keine Kinder und glaubt, ihre Jugend sei vorbei. Sie ist eine „deeply disturbed young woman“. Die Einsamkeit dieser Figur innerhalb dieser fantastischen Leere der riesig großen Felsenreitschule ist herzzerreißend, noch bevor sie einen einzigen Ton gesungen hat.

SN: Der jüdische Humor prägt viele Ihrer Inszenierungen wie „Don Giovanni“ oder „Falstaff“. Welche Möglichkeiten bietet diesbezüglich „Katja Kabanowa“?

So gut wie gar keine. Nur ganz selten blitzt ein kleiner Moment von schwarzem Humor oder Ironie auf. Dieses Dorf ist fast eine humorfreie Zone. In einem Schtetl wäre das anders. Aber das hier ist eine christliche, verklemmte, geschlossene Welt. Katja hat fast keine Chance.

SN: Ist das neu für Sie, eine Ihrer stärksten künstlerischen Waffen nicht einsetzen zu können?

Ich habe viele Inszenierungen ohne großen Einsatz von Humor gemacht. Die Welt ist voll von Grauen und Ekelhaftigkeit, aber auch Freude und Humor. Die Trennung von Ernsthaftigkeit und Humor ist mir fremd. Es ist ein sehr deutsches und auch problematisches Charakteristikum, Komödie und Tragödie zu trennen. Shakespeare oder Tschechow haben das nie gemacht. Oder nehmen Sie Mozart: „Dramma giocoso“. In italienischer oder russischer Literatur hat man kein Problem, gleichzeitig zu lächeln und zu weinen. Von einem Moment zum anderen von ernsthaften Gesprächen über Leben und Tod in einen Witz zu kippen, das ist nichts speziell Jüdisches. Wir können es nur besonders gut.

SN: Wenn es nicht der Humor ist, was ist dann Ihr Zugang zu diesem Stoff?

Ich tauche gerne in Welten ein, die mir nicht vertraut sind. Nehmen Sie die „Meistersinger“, die ich in Bayreuth inszeniert habe: Diese Welt ist mir sehr fremd. Aber ich habe mit Ironie und Witz einen Zugang gefunden. Nächstes Jahr setze ich in Glyndebourne „Dialogues des Carmélites“ in Szene. Diese hochkatholische Nonnenwelt ist für mich als Mann, als Jude, als Atheist sehr fremd, aber als Regisseur hochinteressant. Es ist ein bisschen wie in Janáčeks Oper: null Humor. Die Klaustrophobie in „Katja Kabanowa“ ist deshalb so potent, weil die Leute nicht lachen. Oder sie haben es vergessen. Das Stück ist permanent von Wolken überdeckt.

SN: Wie setzen Sie diese Klaustrophobie in Szene?

Meine Idee ist, dass die Mitmenschen die Klaustrophobie in Katja auslösen. Das Publikum sieht die Oper durch ihre Augen. Sie nimmt uns wie Begleiter an der Hand. Wir sehen das Stück als eine Serie fragmentarischer Erinnerungen an ihr Leben, als wäre sie vielleicht schon tot. Mich reizt es, einer Oper, die oftmals hochrealistisch in Szene gesetzt wird, alles an dörflicher Folklore wegzunehmen und dann zu sehen, was als Kern bleibt. Die Requisiteure sind ein bisschen enttäuscht. Aber die grandiose Partitur gewinnt dadurch. Die Inszenierung ist von Körper, Gesang, Text und Licht geprägt. Wir gehen zu den Wurzeln des Theaters zurück. Denn Shakespeare hatte nichts, Euripides hatte nichts und Molière hatte fast nichts.

SN: Die Felsenreitschule eignet sich für diesen minimalistischen Ansatz.

Wenn ich im griechischen Epidauros sitze, dann sehe ich das schönste Bühnenbild der Welt. Eine leere Plattform, Natur und der Darsteller: So hat Theater begonnen. Die Felsenreitschule hat diese archaische Form von Theater. Diese Mauer in der Felsenreitschule ist unglaublich bedrohlich, eine Welt voller Felsenklippen. Es ist gefährlich, wenn man in diesen Raum etwas hineinbaut. Man muss diese Steinmauer und die unglaubliche Länge der Bühne benutzen. Janáčeks Opern sind Knochen, Muskeln und Blut. Die Haut fehlt und die Nervenenden sind sichtbar. Es ist ein Stück über Nervenenden unterschiedlicher Menschen, die kollidieren. Man braucht weder Requisiten noch Bühnenbild, sondern nur darstellerische Kunst.

SN: Wie wichtig ist es, mit dem Dirigenten Jakub Hrůša einen „Native Speaker“ an seiner Seite zu haben?

Es spielt nicht immer eine große Rolle, ob Dirigenten aus dem Herkunftsland des Komponisten stammen. Mitunter ist es auch hinderlich, weil sie dem Werk zu nah sind. Aber: Bei manchen Stücken hilft es enorm. Einen „Rosenkavalier“ ohne Deutschkenntnisse zu dirigieren ist fast unmöglich. Der Klang dieses Stücks kommt aus dem Text. Bei Janáčeks Opern ist es ähnlich. Die musikalische Qualität der tschechischen Sprache war für diese Werke essenziell. Jakub Hrůša muss dieses Stück dirigieren, das war mir klar. Ich habe mit ihm bereits zusammengearbeitet und auch gehört, wie er tschechische Opern dirigiert. Es ist atemberaubend.

SN: Sie sind so humorvoll. Wie wirkt sich die Arbeit an einem so tragischen Stück auf Ihr Befinden aus?

Ich bin ein sehr melancholischer Mann – wie alle Clowns. Die Musik von „Katja Kabanowa“ geht tief in meinen Körper und in meine Seele hinein. Aber ich bin jemand, der schnell ausschalten kann. Wenn ich aufgrund der Tragik einer Musik nicht weiterarbeiten kann, bin ich im falschen Beruf. Und: Je tragischer und ernsthafter die Stücke sind, desto mehr Spaß hat man im Probenraum. Das komödiantische Timing und der Rhythmus in Operettenproduktionen erfordern endlose Wiederholung. Man tötet dabei bewusst den Humor. In tragischen Stücken hingegen muss man nach Proben lachen, um sich von dieser Welt zu befreien. Wenn ich mit jüdischen Künstlern an Stücken über den Holocaust gearbeitet habe, haben wir richtig gelacht–aber natürlich nicht über das Thema. Wir haben den Prozess des Humors als Befreiung benutzt.

SN: Ist der Tod für Katja ein Befreiungsschlag?

Für sie vielleicht. Aber wenn sich die Kabanicha zuletzt an die Dorfgemeinschaft wendet und sinngemäß „Danke für die Anteilnahme. Aber gehen Sie jetzt bitte nach Hause“ sagt: Das ist einer der besten und schockierendsten Schlüsse der Operngeschichte. Man kann nicht weinen, man ist darüber hinausgelangt. FLORIAN OBERHUMMER

Oper: „Katja Kabanowa“ von Leoš Janáček. Felsenreitschule, Premiere am 7. August.