Salzburger Festspiele 2022

„Träum die alten Träume“

„Jakob Lenz". Wolfgang Rihm macht in seiner Kammeroper Seelenzustände musikalisch erfahrbar.

Wolfgang Rihm hat in seinen 70 Lebensjahren über 600 Werke komponiert. BILD: SN/ULI DECK/DPA

„Ah! Oh! Oh! Oh Geist!" - mit diesem Aufschrei beginnt die Oper „Jakob Lenz" von Wolfgang Rihm. Ihr tragischer Held ist der deutsche Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz, ein Dramatiker des Sturm und Drang, zeitweise Goethe-Freund, früh erkrankt, einige sprechen von Wahnsinn, andere von Schizophrenie, der, auch diese Umstände bleiben ein Rätsel, 41-jährig in Moskau tot aufgefunden wurde.

Wolfgang Rihms Kammeroper erzählt in dreizehn Szenen (und fünf Zwischenspielen) vom Aufenthalt des jungen Schriftstellers in den Vogesen. Hier, im Dorf Waldersbach, hatte er zu Beginn des Jahres 1778 bei dem evangelischen Pfarrer Johann Friedrich Oberlin Zuflucht gefunden. Zweck dieser winterlichen Auszeit war, die überreizten Nerven zu beruhigen. Aber auf den Wanderungen über die elsässischen Berge bricht die psychische Krise erst so richtig aus, die Verzweiflung kennt keine Grenzen, die Erinnerung an Friederike Brion, die ihn nicht liebte, peinigt ihn, ein Suizidversuch misslingt. Pastor Oberlins Aufzeichnungen bilden die Basis für die berühmte Novelle „Lenz" von Georg Büchner. Von dieser Erzählung hat sich der Librettist Michael Fröhling inspirieren lassen, die endgültige Textfassung stammt vom Komponisten.

Expressive Klänge

Rihms Musik ist eindringlich und erschütternd: Von den ersten Pianissimo-Passagen der drei Celli, überschrieben mit „molto calmo", und dem verzweifelten Schrei des Dichters an kann man sich den expressiven Klängen dieses Werkes kaum entziehen. Merkwürdigerweise wurde der Komponist für den emotionalen Furor bei der Uraufführung von Kritikern gerügt. Inzwischen gehört die kleine Oper aber zu den erfolgreichsten Stücken des zeitgenössischen Musiktheaters, unglaublich, aber wahr: Mehr als 500 Mal wurde sie nachgespielt.

Die Seelenzustände von Jakob Lenz werden in der Musik erfahrbar, sie folgt seinen inneren Stimmen, Ekstasen und Schmerzen. Rihm hat für seinen Antihelden einen Klang aus „Bedrohung, Wehmut und Verzweiflung" geschaffen, schreibt seine Biografin Eleonore Büning. In einem Interview sagte der Komponist, er habe versucht, für seine Figur „eine Chiffre von Verstörung" zu erfinden. Beeindruckend ist nicht nur die Intensität der musikalischen Sprache. Ihre Wirkung erhält sie auch aus Gegensätzen: Lyrisch-getragene Passagen wechseln ab mit Dramatik, Ekstase und Irresein, flirrende, drängende Motive folgen auf melancholische Szenen, wie im siebten Bild, wenn Lenz an einem Gedicht schreibt. Rihm komponierte die Szene wie ein Madrigal.

Der Erfolg der Kammeroper hat auch praktische Gründe: Es gibt nur drei Solisten, Lenz wird von einem Bariton, die beiden „Gegenfiguren", Pastor Oberlin und Christoph Kaufmann, ein Schweizer Freund von Lenz, werden von Bass und Tenor gesungen. Das Orchester ist schlank besetzt: Ein Schlagwerkinstrumentarium dominiert, Streicher sind nur mit den drei Celli vertreten, dazu kommen aber solistische Instrumente mit besonderen Klangfarben, Oboe und Englischhorn, Klarinette und Bassklarinette, Fagott und Kontrafagott, Trompete und Posaune. Eine wesentliche Rolle spielt der Chor, der die inneren Stimmen von Lenz hörbar macht, in kleinen Soli Figuren der elsässischen Dorfwelt verkörpern darf, der aber einmal (wie im 9. Bild) die Erzählung selbst in die Hand nimmt. Auch Kinderstimmen kommen zum Einsatz.

Lenz ist das Opfer einer intoleranten Welt, die keine Außenseiter erträgt. Entsprechend hat Rihm die Stimmen für die beiden Männer Oberlin und Kaufmann in Kontrast entwickelt, sie haben keine Identität, sind fürsorgliche Fragesteller, moralische Einflüsterer, biedere Repräsentanten jener Welt, in der sich Jakob Lenz nicht zurechtfindet. Die Dorfgemeinschaft will zuletzt den Verrückten loswerden, ihn nach Hause schicken. Als Lenz abwehrt und sagt, er wolle nie wieder in die Hölle seiner Familie zurück, ermahnen sie ihn: „Du sollst Vater und Mutter ehren!" Wer hier die Verrückten sind das ist die Frage. „Die Hölle, das sind die anderen", sagte Jean-Paul Sartre. Oder hatte Thomas S. Eliot recht: „Die Hölle, das sind wir selbst"?

Das verrückte Genie und die kunstfeindliche Welt - ein Topos der romantischen Künstlerverklärung, könnte man einwenden. In diesem Sinne trägt die Oper den Geist der Entstehungszeit, sie träumt die Utopie der 1970er Jahre, erinnert an die leidenschaftliche Suche nach einem „anderen Zustand". „Träum die alten Träume, wähn den alten Wahn, sieh der Zukunft Räume golden aufgetan ...", singt Jakob Lenz.

Die Utopie einer gerechten Gesellschaft war das Thema in Diskussionen jener Jahre, und auch Wolfgang Rihm, Anfang der 1970er Jahre Student in Freiburg im Breisgau, macht sie zum Thema. In der Oper singt Lenz: „Glücklicher Boden, wo die Freiheit atmet" - im fünften Akt von Goethes zweitem Teil des „Faust“ heißt die Utopie: „auf freiem Grund mit freiem Volke stehen".

Mit einem Ruf der Empörung endet die Oper, die letzten Worte heißen „Konsequent, konsequent!". Lenz wird in eine Zwangsjacke gesteckt. Der „verrückte" Lenz wird weggesperrt, wohin, kann sich jeder denken. Die Welt der Frömmler und Spießer siegt. Sarkastisch ruft er dazu immer wieder aus: „Konsequent, konsequent!"

Wolfgang Rihm war 25 Jahre alt, als er 1977 erste Skizzen für „Jakob Lenz" notierte. 1979 erlebte er in Hamburg die Uraufführung dieses Auftragswerkes. Nun wird sein 70. Geburtstag gefeiert, mehr als 600 Kompositionen sind im überaus produktiven Leben entstanden. KLEMENS RENOLDNER

Hommage Wolfgang Rihm

Vigilia"

Cantando Admont und Klangforum Wien, Vigilia für sechs Stimmen und Ensemble, 23. Juli, 21 Uhr, Kollegienkirche.

Jakob Lenz"

Kammeroper, dirigiert von Maxime Pascal, 27. Juli, 19.30 Uhr, Stiftung Mozarteum.

Chiffre"

Zyklus für 17 Spieler, 31. Juli, 19.30 Uhr, Stiftung Mozarteum.