Salzburger Festspiele 2022

Wir sind nicht nur da, wo unsere Körper sind

„Verrückt nach Trost". Von der Sehnsucht nach dem Gefühl, richtig am Leben zu sein.

Ursina Lardi als Oktopus und Sebastian Blomberg als Taucher in einer Probe für "Verrückt nach Trost".

„Verrückt nach Trost" heißt das erste Stück des deutschen Regisseurs Thorsten Lensing. Es wird am 6. August in dessen Regie bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt. Die Schauspielerin Ursina Lardi, die vor zwei Jahren in Salzburg in „Every-woman" in der Regie von Milo Rau zu sehen war, spielt die Rolle der Charlotte.

SN: Seit 2001 arbeiten Sie mit Thorsten Lensing. Was ist daran das Besondere?

Ursina Lardi: Thorstens Theater ist sehr genau, schnörkellos und auf Effekte verzichtend. In der Zusammenarbeit ist er ausgesprochen partnerschaftlich, mit viel Sorgfalt und Humor, ohne jegliches hierarchische Denken. Die Projekte entwickeln sich über große Zeiträume, in denen Thorsten das Material bewegt und mit großer Sorgfalt eine Textfassung erstellt oder wie hier ein Stück schreibt. Nach langer Zeit des Rückzugs und der Vorbereitung ist dann aber bei ihm das Zentrum die Probe, das Spielen, der Kontakt mit und zwischen den Spielern und Spielerinnen. Das alles und sein unbedingtes Vertrauen in uns ermöglichen uns Spielern und Spielerinnen im besten Fall, über uns selbst hinauszuwachsen. Das will man natürlich immer wieder erleben.

SN: Thorsten Lensing hat das Stück dem Ensemble gewidmet.

Dass er das Stück für uns geschrieben hat, passt zu Thorsten, weil er immer vom Menschen ausgeht, nie von konzeptionellen Überlegungen. Das macht sein Theater auch so unanfällig für Moden. Thorsten hat vor drei Jahren begonnen, Szenen aufzuschreiben, die er gerne von uns gespielt sehen würde. Nach und nach entstand das Stück. Der Titel „Verrückt nach Trost" wurde erst gefunden, als der Text fertig war.

Es ist kein Stück zu einem Thema, kein Stück über Trost. Es handelt allein von einer Handvoll Menschen, der Art und Weise, wie diese Menschen sind und was sie so erleben.

SN: Spiel und Spielen sind in dem Stück aber sehr wohl Thema.

Mehr denn je. Für Thorsten geht es darum, nicht nur komplexe Inhalte zu finden, sondern auch komplexe Spielaufgaben. In seinem ersten eigenen Stück geht er einen Schritt weiter, das Spielen selbst wird zur Überlebenstechnik, das heißt, wir spielen Figuren, die selber spielen, um zu überleben.

Die beiden Kinder Charlotte und Felix zum Beispiel spielen ihre verstorbenen Eltern, halten so die Erinnerung an diese wach und können für Augenblicke die Katastrophe des Verlustes vergessen. Als Charlotte dieses Spiel beendet, sterben für ihren Bruder Felix die Eltern quasi noch einmal. Er wird im Verlauf des Stückes andere Arten des Spielens finden, um seine Einsamkeit für Momente zu überwinden.

Da plötzlich, fast noch am Beginn der Anhöhe, eine Pantherkatze, sehr geschmeidig und flink, die mit geflecktem Fell bedeckt war; und ging mir nicht mehr vor dem Gesicht weg.
Dante, „Hölle", 1. Gesang

SN: Bisher hat Thorsten Lensing als Regisseur gearbeitet, nun tritt er erstmals als Autor auf.

Aus meiner Sicht ist das eine logische Konsequenz seiner bisherigen Arbeit. Früher war ihm absolute Texttreue wichtig, er hat kein Wort der Stücke gestrichen. Dann kamen die Romanbearbeitungen, bei Dostojewskis „Karamasow" traf er zwar eine Auswahl, die Szenen aber ließ er unberührt. Bei David Foster Wallaces „Unendlicher Spaß" hat er dann schon stark eingegriffen und die literarische Vorlage bearbeitet. Nun hat er sein eigenes Stück geschrieben.

SN: Inwiefern als realistisch versteht sich das Stück oder als surreal?

Es ist kein surreales Stück. Es versucht, die gesamte Lebenswirklichkeit des Menschen zu erfassen. Wir sind ja nicht nur da, wo unsere Körper sind. Wir leben auch woanders. Diese unsichtbaren Welten verkörpern wir, indem wir sie spielen. Wir spielen, was eine Figur beim Lesen erlebt oder wie eine andere sich ihr zukünftiges Leben vorstellt.

Vor allem in der ersten Hälfte von „Verrückt nach Trost" werden diese Realitätsebenen durcheinandergewirbelt, da die zentralen Figuren Charlotte und Felix noch Kinder sind und das kindliche Bewusstsein noch durchlässiger dafür ist. Als Erwachsene hängt man ja eher in den Zwängen der Gegenwart fest. Da herrscht eine größere Ordnung. Man glaubt es wenigstens.

SN: Geht es im Stück um die Frage, wie man richtig lebt?

Es geht weniger um: Wie lebt man richtig? Es ist kein moralisches Stück. Es geht eher um: Wie ist man richtig am Leben, also wirklich lebendig? Darum ringen die Figuren.

SN: Auffällig ist, dass in Thorsten Lensings Inszenierungen immer Tiere von Bedeutung sind.

Ja, Tiere haben bei uns immer eine große Rolle gespielt. Zuerst waren es lebende Tiere, bei Robert Walsers „Schneewittchen" etwa war eine echte Taube auf der Bühne. Die hätte zu einem bestimmten Zeitpunkt aus dem Fenster fliegen sollen, hat aber eigentlich eher Chaos angerichtet, was natürlich auch schön war. Dann haben wir angefangen, Tiere zu spielen. André Jung war in „Karamasow" ein unvergesslicher Hund. In „Verrückt nach Trost" spielt er einen OrangUtan, Devid Striesow einen hochgefährlichen Kugelfisch, Sebastian Blomberg ist eine Schildkröte, und meine Figur Charlotte wird über eine Strecke als Oktopus erzählt.

Dieser Oktopus ist das erste Tier in Thorstens Theater, das spricht. Unsere Tiere darf man sich aber keinesfalls naturalistisch vorstellen, es geht nicht darum, Tiere nachzumachen, es gibt auch keine Tierkostüme, sondern es geht eher um eine Anverwandlung dieser Tiere durch uns Menschen oder, im Falle von Charlotte, darum, bestimmte Aspekte einer Figur sichtbar zu machen. Man kennt ja dieses Spiel im Privaten, Leuten Tiere zuzuschreiben. Da trifft man manchmal etwas, das auf psychologischer Ebene nicht so leicht zu beschreiben wäre.

SN: Und warum ein Oktopus?

Es gibt erstaunliche Parallelen zwischen einem Oktopus und der Figur der Charlotte. Der Oktopus ist, wie sie, Waise. Der Vater stirbt bei der Zeugung, die Mutter nach der Geburt. Charlotte ist zu viel für die Welt, sie ist einsam, weil unter ihr alle zusammenbrechen. Und auch ein Oktopus hat zu viel von allem, er hat neun Gehirne, acht Arme und drei Herzen.

Er kann sich aber nicht weiterentwickeln, weil er keine Eltern hat, keine Generation über sich, an die er anknüpfen kann, sondern muss immer bei null anfangen. Mich berührt das sehr, diese Vorstellung, dass Oktopusse mit ihrer Intelligenz in einer evolutionären Sackgasse stecken, kein Wissen kumulieren, nichts weitergeben, sich also nicht weiterentwickeln können.

SN: Was meint Thorsten Lensing, wenn er davon spricht, dass sich im Schlaf vieles klärt"?

Ich denke, es geht ihm da um das Loslassen. Im Spiel - auf der Probe wie in der Vorstellung - ist es wichtig, gewisse Dinge geschehen zu lassen, ohne sie kontrollieren zu wollen. Zwischen uns Schauspielern und Schauspielerinnen passieren dann unplanbare Situationen, manchmal die schönsten. Diese Offenheit trifft auch auf sein Stück zu. Trotz langer Vorbereitungszeit bleibt es bewusst unvollständig, es braucht uns Spieler und Spielerinnen, also die Verkörperung, um vollständig zu werden.

Theater: Thorsten Lensing, „Verrückt nach Trost", Uraufführung, Premiere am 6. August, Universität Mozarteum, Max-Schlereth-Saal. JULIA DANIELCZYK

Zur Person Ursina Lardi

Ursina Lardi spielt die Charlotte in „Verrückt nach Trost". BILD: SN/SF/URBAN RUTHS

Die Schweizer Schauspielerin ist seit 2012 im Ensemble der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin.

Sie wirkt in Filmen mit, etwa in „Das weiße Band" (Regie: Michael Haneke).

Sie stammt aus Samedan in Graubünden und studierte an der Hochschule Ernst Busch Berlin.

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hkk